Mitja XII: Der jüngste Spross der Musikerdynastie Jurowski debütiert beim Gewandhausorchester
Noch stärker russisch geprägt kann ein Konzert des Gewandhausorchesters kaum sein: Alle drei Kompositionen stammen von Russen, der Dirigent wurde 1979 in Moskau geboren und die Pianistin 1983 in, Achtung, Noworossisk. Da das Publikum feinfühlig interpretiert, dass russischer Kulturboykott auch neun Monate nach dem Einmarsch der, hüstel, Roten Armee in der Ukraine keines der vielen dadurch entstandenen Probleme löst, ist das Haus ausverkauft – eine gute und in noch nicht ausgestandenen pandemischen Zeiten durchaus nicht selbstverständliche Situation. Daß ein Teil des Publikums allerdings speziell auf das erste Werk des Abends oder aber auf die Pianistin fixiert ist, zeigt sich darin, dass nach der Pause einige Plätze leer bleiben, die vorher besetzt gewesen waren. Besagtes erstes Werk ist das 3. Klavierkonzert d-Moll op. 30 von Sergej Rachmaninow, ein nicht ganz so großer Hit wie das zweite, aber immer noch hochgradig begeisterungsfähig, zumal dann, wenn Anna Vinnitskaya am Klavier sitzt, der man (vom immensen allgemeinen pianistischen Können mal ganz abgesehen) ebenso eine intensive Durchdringung russischen Musikschaffens zutraut (und die sie immer wieder attestiert bekommt) wie Dirigent Dmitri Jurowski, einem Angehörigen einer bekannten russischen Musikerfamilie, der mit diesem Programm beim Gewandhausorchester debütiert. Aber selbst eine derartige Ansammlung von Könnern (bekanntlich zählt ja auch das Orchester zur Weltspitze) bildet keine Garantie für eine uneingeschränkt erstklassig zu nennende Wiedergabe, wie an diesem Abend deutlich wird. Das geht schon im ersten Satz, einem Allegro ma non tanto, los. Jurowski gibt ein flüssiges Tempo vor, findet aber anfangs nur schwer eine gemeinsame Sprache mit dem Orchester, das einen viel zu nervösen Eindruck hinterläßt. Außerdem geht die Klangbalance nur selten auf und kippt mal in diese, mal in jene Richtung: Entweder man hört Vinnitskayas Spiel kaum durch, oder die Pianistin stellt ihre musikalischen Partner ins akustische Abseits. Klar, ihr Spiel genügt mal wieder auch verwöhntesten Ansprüchen, wenn sie hier und da in den tiefsten Tiefen der Seele wühlt – aber von diesen Momenten gibt es viel zu wenige, und ein richtiges Miteinander mit dem Orchester entwickelt sich kaum. Himmelhochjauchzende und eher betrübliche Momente liegen oft direkt beieinander: Für die energisch zupackende erste Kadenz möchte man der Pianistin am liebsten Szenenapplaus spendieren, aber im perlenden Ausklang dieser Kadenz findet sie sich mit den einzeln hinzutretenden Holzbläsern nicht zum Dialog. Was da geht, wenn sich alle wirklich einig sind, zeigt die Passage nach der zweiten Kadenz, wo ein Rädchen ins andere greift – nur ist der Satz dann halt kurze Zeit später zu Ende. Kann das Adagio-Intermezzo die gute Form aufnehmen? Nur bedingt. Jurowski malt in der Orchestereinleitung mit dem großen Pinsel, aber noch nicht mit dem ganz großen, so dass die weite Weichheit noch zu wünschen übrig läßt, und Vinnitskaya ist balanceseitig besser eingebunden, aber immer noch ein Stück von der Ideallinie entfernt. Was man hört, das überzeugt natürlich mal wieder – runde, große Klänge, wenn nötig, aber auch Brüche nicht einfach überspielend –, aber das Miteinander bleibt schwierig, und selbst die groovigen folkloristischen Parts geraten nicht zum Partyauftakt, obwohl das (trotz des Adagio-Charakters) nicht ausgeschlossen gewesen wäre angesichts des Eklektizismus des Komponisten. Für den Orchesterausklang holt Jurowski dann allerdings den richtigen großen Pinsel heraus und gibt damit abermals ein Versprechen auf Besserung ab. Wird dieses Versprechen im Finale eingehalten? Fast seufzt man erleichtert auf, und ein „Ja“ entringt sich der Brust. Der Satz hängt attacca am zweiten, Jurowski, Vinnitskaya und das Gewandhausorchester schärfen die Zeichnung, besinnen sich auf ein Miteinander – und endlich, endlich klappt auch die Feinabstimmung in der traumwandlerischen Sicherheit, die man zum beglückenden Gelingen dieses vielschichtigen Werkes braucht. Die Balance paßt selbst dann, wenn das ganz große Kino gefordert ist, und alle haben spürbar Freude am jetzt gemeinsam entwickelten Spielwitz. Auch die ausholenden Downtempi sitzen nun paßgenau, und dass es bei einzelnen Dialogen der Pianistin und bestimmten Orchestergruppen immer noch Steigerungsmöglichkeiten gibt – geschenkt: Die Zaubermomente überwiegen ganz eindeutig, die gemeinsame Energiefreisetzung übersteigt das Maß der individuellen Summen, und nach dem fast perfekten Hin und Her im knackigen Finale erschallen sofort Bravorufe aus dem Publikum, die angesichts der Leistung in diesem letzten Satz auch verdient sind. Vinnitskaya bedankt sich mit einer Zugabe, nämlich „April: Schneeglöckchen“ aus Peter Tschaikowskis „Jahreszeiten“ op. 37a oder 37b (man findet beide Zahlen in diversen Quellen), einem kleinen volksliedhaften Stück mit geschickt angebrachten Verzierungen (wie hätte da der zum Datum passende November geklungen?), und da einige Enthusiasten im Publikum immer noch keine Ruhe geben, setzt sie noch eine weitere Zugabe dran, nämlich den sehr tempovariablen Walzer f-Moll op. 1 von Alexander Skrjabin. Sofia Gubaidulina geht in ihre letzte Saison als Gewandhauskomponistin, und noch immer läßt sich so mancherlei aus ihrem Schaffen ausgraben, was bisher nicht im Fokus des Geschehens stand. Das 1971 komponierte „Märchenpoem“ wurde zwar noch im gleichen Jahr unter Leitung von Maxim Schostakowitsch für den Rundfunk aufgenommen, aber erst 1992 im Konzert uraufgeführt, und mit dem Gewandhausorchester erklungen ist es bisher noch gar nicht. Die Besetzung geht nur wenig über ein Streichorchester hinaus (je drei Flöten und Klarinetten, Klavier, zwei Schlagwerker und Harfe), um die Erlebnisse eines Stücks Kreide zu thematisieren, das per bestimmungsgemäßem Gebrauch in der Schule immer kleiner wird, aber sowieso lieber Landschaften malen würde und dieser Leidenschaft nach seiner Aussonderung, weil es zu klein geworden ist, in seinem finalen Lebensabschnitt dann auch frönen darf. Aus einem eher mysteriös anmutenden Tableau mit flirrendem Holz entwickelt sich ein munteres Hin und Her, in dem man mit etwas Phantasie tobende Schüler und das eher unangenehme Geräusch auf einer Tafel kratzender Kreide entdecken kann und das markant durch einen hämmernden Klavierakkord gegliedert wird. Die lange Depression in der dunklen Hosentasche eines Schülers akzentuiert Jurowski eher als Lähmung denn als Finsternis, bevor plötzlich das Meeresufer in Sicht kommt und die Kreide sich in angenehmer Tätigkeit aufzehren darf, so dass das Stück folgerichtig im klanglichen Nichts entschwindet und das auf zauberhafte Weise tut, wobei sich sogar die allgegenwärtigen Huster zur rechten Zeit beherrschen. Dmitri Schostakowitschs Sinfonie Nr. 9 Es-Dur op. 70 hatte 1945 alle vor den Kopf gestoßen, die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges eine triumphale Siegessinfonie erwartet hatten, inclusive des Generalissimus Stalin höchstselbst, so dass der Komponist alsbald ein zweites Mal wie schon 1936 verdammt wurde – skurrilerweise kann man dem Werk eigentlich nicht mal den Vorwurf des Formalismus, der dann auch prompt hervorgeholt wurde, machen, weil es in seiner Form und der daraus resultierenden Aussage derart abstrus rüberkommt, dass es sich allen Konventionen entzieht. Dmitri Jurowski, als noch gelernter Sowjetbürger mit der Doppelbödigkeit im Werk Schostakowitschs natürlich bestens vertraut (und sein Vater Michail Jurowski hatte früher des öfteren mit Schostakowitsch vierhändig Klavier gespielt), braucht nur wenige Takte, um das Gewandhausorchester im eröffnenden Allegro aufs schräge Humorlevel zu bringen, das in grotesker Weise auch mit den vom Komponisten bekannten zirkusartigen Elementen befeuert wird. Auch die Anflüge eines militärischen Touchs triefen vor Ironie, aber der Dirigent ist zugleich schlau genug, das Ganze nicht in den reinen Klamauk abdriften zu lassen. Das zeigt sich auch im Moderato an zweiter Position: Man kann die Oboenmelodie, die später von der Klarinette aufgegriffen wird, total überzeichnen, man kann sie auch völlig unironisch nehmen, oder man sucht einen geschickten Zwischenweg. Jurowski tut letzteres und läßt die beiden Bläser sehr distanziert agieren. Die Tutti nimmt er klanglich tiefendominiert, aber weit von etwaiger Finsternis entfernt, und auch im dritten Satz, einem Presto, weiß er die effektvollen Elemente wohl zu dosieren, in diesem Fall nicht ganz so grotesk wie im ersten Satz. Auch die noch folgenden zwei Sätze, ein Largo und ein Allegretto, legt der Dirigent so geschickt an, dass man sich, weiß man nicht um den Charakter des Werkes, verzweifelt fragt, wann hier endlich mal was Ernsthaftes passiert, weil alles durch die Finger flutscht und verschwindet, seien es riesengroße Blechchoralthemen, die ins Nichts führen, ein melancholisches und doch abstruses Fagott, die im letzten Satz wiederkehrenden Zirkuselemente oder die eine Drohung antäuschenden finsteren Hörner. Meisterlich gelingt dem übrigens sehr kontrolliert und nahezu ohne Beinarbeit dirigierenden Jurowski und dem Gewandhausorchester die finale Spaßschichtung: erst Wiener Neujahrskonzert, dann ein wüst-witziger Highspeedschluß – lauter Applaus und etliche Bravi belohnen die sehr starke Leistung. Dann passiert allerdings etwas Ungewöhnliches. Jurowski greift zum Mikrofon und hält eine Ansage in nahezu akzentfreiem Deutsch, welchletzterer Aspekt erstmal nur diejenigen überrascht, die nicht wissen, dass er als Zehnjähriger mit seinem Vater nach Dresden gegangen ist und auch später als Student (erst Cello, dann Dirigieren) viele Jahre in Deutschland verbracht hat. Mit feinem Humor erzählt er, wie er Dmitri Schostakowitschs Witwe Irina zum Geburtstag anrufen wollte, sich aber im Datum irrte, einen Monat zu früh anrief und mit der Noch-nicht-87-Jährigen dann u.a. über Schostakowitsch-Werke, denen man selten bis nie auf den Spielplänen begegnet, plauderte – und ein solches kommt als Orchesterzugabe, ein Element, welches bei Ensembles wie dem Leipziger Universitätsorchester Usus ist, aber beim Gewandhausorchester Seltenheitswert besitzt. Als Leipziger Erstaufführung erklingt also ein Orchestertango aus dem Ballett „Der Bolzen“ von 1931, das damals schnell wieder abgesetzt worden war, und auch die kurze Zeit später, 1933, entstandene Orchestersuite mit Stücken aus diesem Ballett bekommt man so gut wie nie zu Gehör. Die Form des Tangos bleibt erkennbar, das Tempo im ersten und zweiten Teil liegt aber sehr weit unten, so dass man dazu nur unter gewissen Schwierigkeiten tanzen könnte. Der zweite Teil hebt das Ironielevel allerdings schon etwas an, und ab Teil 3 bricht sich dann markanter Humor Bahn, der Taumel wird größer und größer, die Trompete sticht markant heraus, und ein fettes Bombastfinale in Hochgeschwindigkeit sorgt für abermaligen großen Jubel im nicht mehr ganz gefüllten Saal – etliche Besucher sind wie erwähnt nach dem Rachmaninow-Klavierkonzert bereits gegangen und haben dadurch die eigentlichen Highlights des Abends verpaßt. Selber schuld. Roland Ludwig |
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