Achim Reichel - ein Hamburger auf eigenem Kurs
Wenn diese Rezension am 1. Januar 2021 mit unserer Januar-Ausgabe offiziell erscheint, wird Achim Reichel noch 76 Jahre alt sein; wenn sie am 1. Februar von der Februar-Ausgabe verdrängt wird, ist er wieder einmal ein Jahr älter geworden. Ein passender Moment ihm zu seinem (vielleicht noch nicht vollendeten) Lebenswerk zu gratulieren. Denn, wenn etwas für ihn typisch ist, dann dass er sein Publikum immer wieder mit Neuem überrascht hat. Reichel ist nie einer der ganz großen im deutschen Musikaquarium gewesen, wie Udo Lindenberg, Westernhagen oder Wolfgang Niedecken. Vor allem aber ist er keiner von denen gewesen, die einmal den Platz an der Sonne erlebt haben und dann jahrzehntelang auf demselben Weg weiter gingen, um mehr oder weniger erfolgreich das einmal erschaffene eigene Erbe zu verwalten. Reichel hat sich immer wieder neu erfunden. Begonnen hat er als Rock’n’Roller mit den Rattles, mit denen er in England nicht als Vorgruppe der Stones, sondern gemeinsam mit den Stones im Vorprogramm von Little Richard auf Tour war. Es folgt poppiger Rock mit Wonderland, Krautrock mit A.R. & Machines und dann ein vielfältiges Solowerk mit Shanties, der Vertonung deutscher Literaturklassiker, Songwriter-Alben, Rock und Pop. Wenige Musiker wagen eine Karriere, in der sie derart oft völlig unerwartete Haken schlagen. Ich hab das Paradies gesehen legt keinen Wert auf Vollständigkeit. Die beiden Alben, durch die ich ursprünglich auf Achim Reichel gestoßen bin, die Heiße Scheibe und Ungeschminkt (durch zwei Stücke auf dem Ahorn-Sampler Rock in Deutsch, Nr. 1), werden in der Autobiographie nicht einmal erwähnt. Aber das ist gut so. Sonst hätten wird hier die übliche Musikerbiographie, die sich unendlich langweilig von einer CD-Produktion, über ihre Veröffentlichung, ihren Erfolg, die folgende Tour zur nächsten Produktion gehangelt hätte. Reichel greift sich Wendepunkte und ihm wichtige Momente in seinem Leben heraus und erzählt sie aus seiner ganz persönlichen Perspektive. Schnell wird deutlich, dass er wesentlich mehr war als Musiker, Texter und Komponist. Er war Produzent, Label-Betreiber, Besitzer des legendären Starclubs – Geschäftsmann, wie er selbst sagt. In einer Hinsicht ist der Schuster aber bei seinen Leisten geblieben. Alles, was er angefasst hat, hatte mit Musik zu tun. Und da er das an so unterschiedlichen Stellen fast immer erfolgreich getan hat, kannte er bald nicht nur Hintz und Kuntz, sondern wohl Hentz und Kantz im (deutschen) Musikzirkus. Und so befindet man sich auf der Reise durch Reichels Leben oft in einer eigenen Welt, der Musik Bubble, in der sich immer wieder dieselben Nasen begegnen. Und man fragt sich, hat Achim auch ein Leben außerhalb dieser Bubble gehabt. Gelegentlich gibt es Hinweise, z.B. wenn er von dem Leben zwischen Hühnern und Gänsen im eigenen weißen Haus am See erzählt. Aber wenn da etwas von großer Relevanz war, verschweigt er es uns. Spannend wird das Buch besonders dann, wenn er einmal aus seinem Musikerleben nach außen blickt. Zum Beispiel, wenn er zu Beginn von der langen Reise als einziger Passagier auf einem Frachtschiff von Deutschland nach Afrika erzählt, auf der wohl auch Teile dieser Biographie geschrieben wurden. Oder wenn er seine Erlebnisse auf Jamaika und in New York schildert, wobei ich das Gefühl habe, dass er im Big Apple nie so recht angekommen ist. Vor allem aber sind es die Kindheits- und Jugenderinnerungen im Hamburg der Nachkriegszeit. Ein spannendes Leben mal mit und mal gegen den Zeitgeist; manchmal ihm sogar ein Stück voraus und sehr oft einfach nebenher, ihn links liegen lassend, völlig unberührt von der Überlegung, ob das, was Reichel jetzt gerade anfasste, gefragt war oder nicht. Wenn es ein kleines Manko gibt, dann ist es das Fehlen einer Zeitleiste und einer Diskographie – gerade angesichts des auswählenden Erzählens Reichels. Aber, mein Gott, wozu gibt es heute Google und Wikipedia. Ich bin nie der Riesen-Fan von Achim Reichel gewesen, habe mich ihm aber immer nah gefühlt. Vielleicht liegt es am Geburtstag, denn ich bin schließlich nur 9 Tage (und 19 Jahre) jünger als er. Und wie er selbst sagt, liegt seine Neugier auf immer Neues vielleicht in seinem Sternbild Wassermann begründet. Und da bin ich ihm sehr nahe – gerade im Blick auf die Musik. Ich habe nie verstanden, warum man sich auf einen, oder zwei, oder drei oder zehn Stile beschränken soll. Norbert von Fransecky |
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