Das Ros entspringt nur im Wort: Ein Ensemble der Fachrichtung Alte Musik an der Leipziger Musikhochschule gestaltet eine der „Leipziger Adventsandachten“
Im zweiten Corona-Lockdown gibt es während des Teillockdowns noch ein Refugium für Livemusik – im Rahmen von gottesdienstlichen Handlungen durfte zumindest bis Mitte Dezember noch musiziert werden, selbstredend in begrenzter Besetzung und unter Befolgung von Hygienekonzepten. Die katholische Gemeinde Leipzigs, seit einem halben Jahrzehnt in der neugebauten Propsteikirche an herausgehobener Stelle gegenüber des Neuen Rathauses beheimatet, organisierte ab Ende November die Reihe „Leipziger Adventsandachten“ mit einer Kombination aus (viel) Musik und (wenig) gesprochenem Wort. Pro Adventswochenende waren drei Andachten mit jeweils unterschiedlicher Musikerbesetzung angesetzt, im Regelfall kleinbesetzte Kammermusikensembles bis Quartettgröße, am Freitag vor dem 3. Advent allerdings eine zweistellige Musikeranzahl in Gestalt eines Ensembles der Fachrichtung Alte Musik an der Leipziger Musikhochschule, das an diesem Abend mit zwei Sängerinnen und neun Instrumentalisten antritt, wobei allerdings nie alle elf gleichzeitig im Einsatz sind und sich die Spieler auch noch auf zwei Spielorte verteilen: die Orgelempore und das Parterre in der Nordwestecke des Saals. Die Besucherzahl ist mit dem aktuellen Hygiene- und Abstandskonzept auf 130 beschränkt, und es gibt kein Reservierungssystem, aber obwohl der Rezensent vorab arge Bedenken hat, dass er bei Zuspätkommen mit Nichteinlaß bestraft würde, muß doch niemand abgewiesen werden: Eine Handvoll Plätze, hauptsächlich auf der Empore, bleibt letztlich sogar leer. „Italienischer Advent um 1700“ ist das musikalische Programm überschrieben, während Sr. Paula Bickel das geistliche Wort über die bekannte Jesaja-Äußerung vom Reis Isais hält, aus der Michael Praetorius dann sein berühmtes Lied „Es ist ein Ros entsprungen“ formte. Selbiges hätte an diesem Abend freilich nicht ins musikalische Konzept gepaßt, wenngleich nicht auszuschließen wäre, dass es um 1700 schon den Weg über die Alpen gefunden hatte, wobei freilich der Wunsch des Komponisten, dessen 400. Todestages die Musikwelt anno 2021 gedenkt, studienhalber selbst nach Italien zu reisen, nicht in Erfüllung ging. Als Gliederungselement des Programms fungieren drei Volksweisen der Piffari e Zampognari, also der Stadtpfeifer des Stiefelstaates, und gleich das eröffnende „Piva, piva“ läßt in der Melodik der nach längerer Baßeinleitung hinzutretenden Barockoboe Anklänge an das auch nördlich der Alpen populär gewordene „In dir ist Freude“ Giovanni Giacomo Gastoldis erkennen, was Zufall sein kann, aber nicht muß.
Ciaconnen gibt es im Programm gleich zwei, und die von Giovanni Colombi ist für ein solistisches Baßinstrument geschrieben. Spätestens hier wird deutlich, dass die Saalakustik gewisse Probleme aufwirft, zumindest vom Sitzplatz des Rezensenten aus betrachtet (er sitzt genau gegenüber den Musikern auf der rechten Saalseite): In den schnelleren Passagen laufen die Töne sehr stark ineinander. Der Rezensent hat in der Propsteikirche zuvor erst ein Konzert miterlebt, und das war im Rahmen der Langen Reger-Orgelnacht im Mai 2016 und bot folglich ganz andere Musik mit deutlich verschiedenen Klangansprüchen – er kann sich somit kein generelles Urteil erlauben, zumal er auch brav auf seinem Platz geblieben ist und nicht versucht hat, die Verhältnisse an anderen Stellen im Saal zu testen, was er unter „Normalbedingungen“ möglicherweise getan hätte. Das Kuriose an der Sache: In gleich mehreren der Stücke stört das Ineinanderlaufen nicht nur nicht, sondern ist in gewisser Weise sogar der transportierten Stimmung dienlich, und Colombis Ciaconna gehört zu jenen, zumal man die Quasi-Polyphonie trotzdem nachvollziehen kann. Ensembleleiter Stephan Rath berichtet dem Rezensenten später, dass das Ensemble während der Proben schon etliche Änderungen in Dynamik und Artikulation vornehmen mußte, um in dieser schwierigen Akustik überhaupt halbwegs durchhörbar zu musizieren, aber die diesbezüglichen Möglichkeiten haben natürlich Grenzen, wobei man hier sozusagen zwischen Pest und Cholera zu wählen hatte: entweder gar nicht musizieren oder aber in einem Saal musizieren, der ein entsprechendes Hygienekonzept möglich macht, dieses aber mit riesigem Volumen und damit zumindest latent zusammenhängender schwieriger Akustik erkauft.
Von den Sängerinnen ist zuerst Franziska Eberhardt an der Reihe, und zwar in Tarquino Merulas „Canzonetta spirituale sopra alla nanna“. Das Stück fällt zunächst aber durch sein eigenartiges monotones Cembaloriffing auf, und das Cembalo ist so laut, dass man die tiefen Passagen der Sängerin gar nicht hört und nur in den höheren Passagen ihren relativ warmen, ohne Schärfe auskommenden Sopran bewundern kann, der sich zugleich farblich sehr gut mit der später hinzutretenden, teils äußerst berückenden Flöte ergänzt. Und der Nachhalleffekt in die Generalpause vor dem rezitativisch wirkenden kurzen Finale wäre sicherlich nicht in jeder Kirchenakustik so gelungen wie hier. An Textverständlichkeit ist hier wie auch in den späteren Vokalwerken allerdings nicht zu denken, und insofern wäre ein Textabdruck auf dem Programmblatt reizvoll gewesen, idealerweise auch noch mit Übersetzung. Nach der Schriftlesung kommen Adagio und Vivace aus Arcangelo Corellis B-Dur-Sonate op. 5/II – und man wundert sich: Besagtes Opus 5 sind berühmte Violinsonaten, aber in der Besetzung dieses Abends steht gar kein Violinist. Allerdings wurden die Werke nicht nur oft nachgedruckt, sondern auch oft für andere Besetzungen arrangiert, und so hören wir hier eine Fassung für Blockflöte und Basso continuo. Im Adagio ergeben sich wieder schöne Klangwirkungen, allerdings sind sich die Beteiligten nicht bei jeder Verzögerung so ganz einig. Im eher unprätentiösen Vivace stimmt die Balance zwischen dem extrem vorschmeckenden Cembalo und der kaum hörbaren Flöte dann leider gar nicht mehr.
Die Arie „Naque col gran Messia“ aus Alessandro Scarlattis Kantate „Non so qual piu m’ingombra“ sieht Anna Katharina Schuch ins Geschehen eingreifen und einen etwas gedeckten Mezzosopran ins Feld führen, womit auch sie gegen die beiden Blockflöten in den unteren Lagen wenig Chancen hat, während sie sich in den höheren Lagen gut Gehör verschaffen kann und auch gestalterisch überzeugt. Die Arie beginnt allerdings mit einer langen Instrumentaleinleitung der Flöten (den Basso continuo übernimmt hier die Orgel), und schon da wird der Hörer mit so mancher interessanten Klangwendung überzeugt, so dass seine Aufmerksamkeit für den Gesangspart dann schon vorbereitet ist. Die nächste Piffari-Volksweise heißt „Quanno nascette ninno“, ein recht flottes und eingängiges Stück, das allerdings melodisch durchaus nicht leicht nachzuvollziehen ist, da sich eine eher diffus grundlegende Laute und eine nachhallgeplagte Flöte nicht unbedingt gut vertragen. Dem „Geistlichen Impuls“ (aka Kurzpredigt) folgt die zweite Ciaconna, geschrieben diesmal von Tarquino Merula – ein virtuoses Ensemblestück, in dem erstaunlicherweise eine gute Klangbalance vorherrscht, solange die beiden Flöten über dem Unterbau solieren. Dann hört man auch den Unterbau gut durch, aber wenn der gleichfalls zu solieren beginnt, wird’s problematisch, wenngleich immer noch klar genug, dass man den Spielern ein gehöriges Maß Können und Virtuosität attestieren kann. In Giacomo Carissimis „Exulta gaude“ treten beide Sängerinnen in Erscheinung, mal call-and-response-artig, mal parallel singend, wobei hier wieder die Orgel fürs Fundament sorgt, während der weitere Unterbau diffus bleibt. Beide Stimmen passen farblich prima zusammen, das Stück enthält etliche richtig schöne und an diesem Abend auch richtig gut rüberkommende Harmonien, und die Feinabstimmung zwischen den beiden Stimmen paßt auch. Vor dem eigentlich als Abschluß gedachten Segenswort sind noch einmal die Piffari an der Reihe, diesmal aber zunächst mit einem Duett der beiden tiefen Saiteninstrumente (ein Basse de Violon und ein Violone, so die Ausweisung auf dem Programmzettel). Auch hier läuft klanglich wieder viel ineinander, und trotzdem ist das Ergebnis einfach nur als schön zu bezeichnen. Die Hauptmelodie besitzt viel Markanz, und der Moriendo-Effekt am Schluß sollte eigentlich für stehende Spannung sorgen können, was an diesem Abend aber nicht ganz gelingt. Viel Applaus ernten die elf Musiker trotzdem, nachdem Stephan Rommelspacher, der Kirchenmusiker der katholischen Gemeinde, ein zusätzliches Schlußwort zu sprechen begonnen und zu einer entsprechenden Handlung quasi aufgefordert hat (das ist ja immer so eine Streitfrage: Soll man bei Musikdarbietungen in gottesdienstlichen Handlungen applaudieren?), das dann allerdings mit einer Hiobsbotschaft endet: Die musikalische Andacht am 3. Advent wird die letzte sein, alle weiteren fallen den verschärften Lockdown-Regeln zum Opfer. Die für diese eingeplanten Künstler sollen allerdings, sobald das pandemische Geschehen das wieder zuläßt, zu anderen Veranstaltungen eingeladen werden und somit auch noch etwas von der mit der Andachten-Serie eingespielten finanziellen Unterstützung abbekommen: Die Kollekte geht komplett an die (überwiegend freischaffenden und daher aktuell finanziell nicht eben auf Rosen gebetteten) Musiker, die die Andachten-Serie gestaltet haben. Roland Ludwig |
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