Musik an sich


Reviews
Rameau, J.-Ph. (Rousset - Audi)

Castor et Pollux (Version 1754)


Info
Musikrichtung: Barock Oper

VÖ: 14.11.2008

(Opus Arte / Naxos / 2 DVD live 2007 / Best. Nr. OA 0999 D)

Gesamtspielzeit: 155:00



LEIDENSCHAFT IM KÜHLSCHRANK

Eine ergreifendere, elegischere Atmosphäre als in seiner zweiten tragedie Castor et Pollux hat Jean-Philippe Rameau wohl in keiner anderen seiner Opern kreiert. Das war schon bei der erfolgreichen Uraufführung 1737 so, mit der sich das Werk immerhin als Dauerbrenner im Repertoire der Pariser Oper etablieren konnte (254 Vorstellungen im 18. Jahrhundert). Und wenigstens mit dem legendären Air Triste aprêts, pâles flambaux dürfte sich der Komponisten den Eintritt in den Parnass verdient haben.

In der 2. Fassung von 1754 hat der Komponist diesen elegischen und lyrischen Ton weiter verstärkt, indem er Handlung und Musik verdichtete und vor allem den klanglichen Dekor beschnitt. Da muss man neben dem Prolog leider auch auf die eine oder andere funkelnde Nummer verzichten. Vor allem das finale „Sternenfest“ mit Planeten- und Götteraufzug schrumpfte Rameau auf ein konventionelles Happy End zusammen. Anderes wurde neukomponiert, z. B. der Monolog des Pollux zu Beginn des 3. Aktes. Dass der Komponist aber die tragische Phébe, das „bad girl“ der Geschichte, in der der Neufassung einfach sang- und klanglos abtreten lässt, ist ein rätselhaftes Manko. Bei dieser neuen Einspielung aus Amsterdam hätte man sich da doch eine philologisch etwas weniger korrekte Lesart gewünscht, die der schillernden Figur ihren kurzen, aber heftigen Abschieds-Monolog zu Beginn des 5. Aktes aus der 1. Fassung gelassen hätte.

Ansonsten ist an der musikalischen Seite des Projekts nichts auszusetzen. Neben William Christies CD-Version der 1. Fassung (harmonia mundi / 1991) gibt es derzeit keine andere ebenso gelungene und bündige Produktion auf dem Markt.
Christophe Rousset dirigiert seine Les Talens Lyriques mit dem gewohnten Feinsinn und Stil durch die großen Bögen der Partitur. Der Notensatz atmet, das Continuo, vor allem das Cembalo, setzt perlende Akzente. Der Orchesterklang ist – aufnahmetechnisch nachbereitet? – voll, samtig, dicht und vor allem in den typisch Rameau’schen Klangfarbenmischungen vorzüglich ausgehört.
Erste Riege sind auch die Sänger/innen: Anna-Maria Panzarella brilliert trotz etwas geschärfter Höhe als glutvoll und sinnlich deklamierende Télaïre. Von Veronique Gens hätte man als schillernde Phébe gerne noch mehr gehört. Henk Neven singt seinen heroischen Pollux mit kraftvoll-jugendlichem Bariton. Lediglich der hohe Tenor von Finnur Bjarnason wirkt etwas belegt. Immerhin kommt man bei ihm auf den Gedanken, dass die übrigen Personen – Gens Phébe ausgenommen – im Vergleich fast schon zu schön und zu sophisticated rüberkommen. Die Nebenrollen sind mit Judith van Wanroij (Cléone), Nicolas Testé (Jupiter) und Anders J. Dahlin ebenfalls erstklassig besetzt. Dafür 18 Punkte

Die Inszenierung von Pierre Audi, der zusammen mit dem Choreographen Amir Hosseinpour und Rousset schon bei Rameaus Zoroastre in Drottingholm erfolgreich zusammengearbeitet hat, verfolgt den Ansatz neobarocker Stilisierung konsequent weiter. Das Ergebnis ist einigermaßen kühl und statisch, trotz der psychologisch ausgefeilten Choreographie und sorgfältigen Personenführung. Verstärkt wird dieser Effekt nicht nur durch den aus dem Orchestergraben singenden Chor, der auf der Bühne lediglich durch Tänzer und Statisten gemimt wird. Das wie von Oskar Schlemmer stammende grafisch reduzierte Bühnenbild erlaubt zwar organische Szenenwechsel, hat aber trotz raffinierter Lichtwechsel die Ausstrahlung eines Kühlschranks. Aufgefangen wird diese Stilisierung auf der DVD durch die gute, unaufdringlich bewegliche Kameraführung. Die neoantiken Kostüme und Frisuren erinnern übrigens eher an „Star Treck – The Next Generation". Merkwürdig: Die lediglich angedeutete Kostümierung und Maske in den mitgelieferten Probenausschnitten (Extras) wirken da wesentlich natürlicher, menschlicher. Denn auch Rameaus Figuren sind, für barocke Opern-Verhältnisse, keine Statuetten, sondern Menschen aus Fleisch und Blut.



Georg Henkel



Trackliste
Extras:
Synopsis
Besetzungsgallerie
Dokumentation von Reiner E. Moritz (16:28)
Besetzung

Anna-Maria Panzarella: Télaïre
Veronique Gens: Phébe
Henk Neven: Pollux
Finnur Bjarnason :Castor
u. a.

Chor der Amsterdamer Oper

Les Talens Lyrique

Christophe Rousset: Musikalische Leitung

Pierre Audi: Regie
Amir Hosseinpour: Choreographie



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