Musik an sich


Reviews
Niedeckens BAP

Lebenslänglich


Info
Musikrichtung: Liedermacher

VÖ: 15.01.2016

(Vertigo / Capitol / Universal)

Gesamtspielzeit: 66:12

Internet:

http://www.bap.de


Lange persönliche Einleitung – „Meine“ warmen Worte

Über der CD steht Niedeckens BAP. Das stürzt den preußischen Ordnungsfanatiker, der ich sein kann, in Schwierigkeiten. Wo gehört das Teil im Regal nun hin? Als „Niedeckens BAP“ unter N, oder als „BAP, Niedeckens“ unter B?

Die CD gibt zwei Antworten. Schaut man sich Booklet und Niedeckens Begleittext an, muss es BAP heißen. So lautet nicht nur die Web-Adresse. Der Kölner spricht in seinen Texten auch eindeutig von der Band BAP.

Aber ich bin ja nicht nur manchmal Preuße, sondern auch langjähriger BAP- und Niedecken-Fan. Und da ist es mir, wenn ich denn die CD höre, einfach lieber, sie unter „Niedecken“ zu verbuchen. Es ist mir schlicht zu wenig BAP drin. Würde ich die CD als BAP-CD besprechen, dominieren einfach die Defizit-Wahrnehmungen.

Ich weiß natürlich, dass diese Entscheidung letztlich Blödsinn ist. Denn in Niedeckens Solo-Debüt Schlagzeiten steckt viel mehr BAP, als in manch einer der jüngeren BAP-CDs. Der (fast) 65-jährige Niedecken ist einfach nicht mehr der 30-jährige Niedecken, der 1981 „Verdamp lang her“ oder den „Müsli Män“ geschrieben hat. Und gerade weil er immer eine ehrliche Haut war und geblieben ist, muss er heute – auch als BAP – anders klingen, als der Ex-Zivi, der seine Erfahrungen mit dem Prüfungsausschuss für Kriegsdienstverweigerer zu Papier gebracht hat.


Das Eigentliche – die Review

Wenn Niedecken in „Dä Herrjott meint et joot met mir“ befriedigt von (Ich übersetze es mal ins Deutsche) „einer Show mit einer Band, die immer noch rockt“ spricht, meint er wahrscheinlich aktuelle Konzerte von BAP, bei denen natürlich auch alte Klassiker am Start sind. Denn Lebenslänglich rockt nur selten und auch dann nicht übermäßig. Es ist im Wesentlichen das Album eines Liedermachers.

…und zwar ein ziemlich Gutes!

Niedecken hatte immer ein sehr enges, persönliches Verhältnis zu seinen Fans. Das schlägt sich darin nieder, dass er nicht nur in den „warmen Worten“ die persönlichen Hintergründe seiner Lieder offen legt. Er singt auch ganz direkt über sich selbst und das gelingt ihm ohne jede Anbiederung, Selbstbeweihräucherung oder ähnliche Peinlichkeiten.

In „Alles relativ“ legt der über 60-jährige Musiker mit 40-jähriger Musikerbiographie Rechenschaft über sein Selbstempfinden ab. In „Et ess lang her“ wagt er es, ein Lied über ein Lied, über DAS Lied, das für ewig für BAP stehen wird. zu schreiben. Und mit „Dä Herrjott meint et joot met mir“ steht er sehr offen dazu, welches Privileg darin besteht, eine derartige Karriere genießen zu dürfen.

Gelegentlich setzt Niedecken sich mit aktuell politischen Fragen auseinander. Obwohl „Vision vun Europa“ „nur“ die subjektive Situation eines Flüchtlings schildert. Ein schönes unkitschiges Portrait mit offenem Ende, das Sehnsucht atmet. Klasse gemacht!
„Absurdistan“ scheint entstanden zu sein, wie oft meine Fürbitten für einen Gottesdienst. Zeitung aufschlagen, Nachrichten schauen – und die Situationen, in denen man nur noch „Kyrie eleison – Herr erbarme Dich“ sagen kann, liegen auf dem Tisch.

Mindestens ebenso prägend für Lebenslänglich sind aber sehr persönliche Lieder, die oft auch sehr ruhig und verhalten vorgetragen werden - z.B. das retrospektive Liebeslied „Miehstens unzertrennlich“ oder die Idylle „Auszeit“.

Zwei drei Mal kommt etwas Rock auf – bei dem akustisch beginnenden, dann aber leicht aufkochenden Opener, bei dem schon erwähnten „Absurdistan“ und vor allem dem Köln-Song „Dausende von Liebesleeder“, bei dem mal richtig verzerrte Gitarren zu hören sind.

Musikalisch sehr überzeugend sind das bereits erwähnte sehnsuchtsvolle „Vision vun Europa“ mit seinem leicht orientalischen Einschlag und die sehr entspannte „Ballade vom Vollkasko-Desperado“ mit ihren stimmungsvollen mexikanischen Trompeten.


Schlusswort:

Am Ende des Booklets fragt Niedecken sich, ob die Band, die gerade ansetzt ihr 40-jähriges Bestehen zu feiern, noch einmal ein Jahrzehnt durchhalten wird. Solange Scheiben wie Lebenslänglich dabei heraus kommen, kann man sich das nur wünschen – auch wenn ich nichts dagegen hätte, wenn das Gaspedal gelegentlich mal wieder in Richtung Rock getreten würde.



Norbert von Fransecky



Trackliste
1Alles relativ 5:18
2 Absurdistan 4:49
3 Dä Herrjott meint et joot met mir 3:47
4 Die Ballade vom Vollkasko-Desperado 6:09
5 Miehstens unzertrennlich 4:24
6 Et ess lang her 4:17
7 Dausende von Liebesleeder 4:36
8 Auszeit 5:17
9 Vision vun Europa 5:43
10 Zeitverschwendung 3:48
11 Schrääsch hinger mir 4:50
12 Sankt Florian 4:20
13 Komisch 3:57
14 Unendlichkeit 4:57
Besetzung

Wolfgang Niedecken (Voc, Mundharmonika)
Werner Kopal (B, Back Voc)
Michael Nass (Keys, Back Voc)
Rhani Krija (Perc, Back Voc)
Anne de Wolff (Geige, Bratsche, Cello, Harmonium, Autoharp, Vibraphone, Posaune, Akkordeon, Back Voc)
Ulrich Rode (Git, Banjo, Dobro, Mandoline, Saz, Pedal Steel, Back Voc)
Sönke Reich (Dr, Perc, Back Voc)

Gäste:
Martin Wenk (Trompete)
Anselm Simon (Klarinette)
Momo Djender (afrikanischer Chor <9>)
Tobias Schmitz (Harmonium)
Nicholas Müller (Voc <3>)



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