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Reviews

Lully, J.-B. (Reyne)

Atys


Info

Musikrichtung: Barock Oper

VÖ: 22.10.2010

(Musiques à la Chabottiere / Codaex 3 CD / DDD / 2009 / Best. Nr. 605008)

Gesamtspielzeit: 167:00

AUF AUGENHÖHE

Jean-Baptiste Lullys berühmte musikalische Tragödie Atys habe ich in der legendären Einspielung unter William Christie bereits an anderer Stelle so ausführlich gewürdigt, dass ich mich hier auf einen Vergleich beschränke. Mehr als zwanzig Jahre hat es gedauert, bis diese einstige „Oper des Sonnenkönigs“ ein weiteres Mal eingespielt wurde. Entsprechend hoch waren die Erwartungen. Hugo Reyne und La Simphonie du Marais haben sich des rund dreistündigen Werks mit großer Sachkenntnis und Delikatesse angenommen. Auf gewisse Weise ist es ihnen gelungen, die Erwartungen zu erfüllen und gleichzeitig zu unterlaufen.

Reyne war seinerzeit Flötist in Christies Orchester, doch bei allem Respekt für diese Ersteinspielung macht er im Detail doch einiges anders. Vor allem ist seine Lesart viel strenger und näher am Text, als das mittlerweile bei Lully üblich ist (soweit das bei einer traditionell in reduzierter Form gedruckten, von den Interpreten erst noch zu entfaltenden Partitur möglich ist). Also: Verzierungen des Gesangs wirklich nur da, wo er in den Noten angezeigt ist; eine wohldosierte Klangfarbenpalette ohne zusätzliches Schlagzeug (aber auch ohne die cromornes (Bassoboen) die offenbar bei den Chören zur Bassverstärkung vorgesehen waren - da unterscheidet sich die neue Version nicht von der alten), keine Reprisen von Instrumentalsätzen, wenn keine gefordert werden. Dafür aber ein modernes Französisch, keine historisierende Verfremdung.
Die ältere Version ist da pragmatischer; Christie berücksichtigt, dass Lullys Musik eigentlich auf die Verbindung mit einer prachtvollen Inszenierung angelegt ist. Seine (moderaten!) „Zusätze“, z. B. Schlagzeug, sind nicht unhistorisch und sorgen vor allem in den Divertissements dafür, dass eine theatralische Atmosphäre zu ihrem Recht kommt. Hier gebe ich der älteren Produktion nach wie vor den Vorzug.

Im Ganzen besetzt Reyne Chor und Orchester schlanker (Christie näherte sich mehr der historischen Großbesetzung), klingt aber genau so substanzreich. Dafür zeichnet sich die neue Aufnahme nicht durch jene leicht hallige Weiträumigkeit aus, die bei Christie für eine gewisse elegische Monumentalität sorgt. Es ist alles in allem ein im Tutti kernigerer, klarerer Zugriff. In den kleinen Ensembles wirkt es dagegen seidig, zart - kammermusikalisch intim. Man meint dann, einer Privataufführung im königlichen Appartement von Versailles zu lauschen. Das ist ohne Zweifel sehr schön. Höhepunkt ist die Traumszene im 3. Akt, die nicht nur wegen der feinen dynamischen und rhythmischen Schattierungen für sich einnimmt, sondern auch technisch überaus gelungen ist (anders als bei Christie kommen die Blockflöten hier ohne Schwebungen aus). Dafür sind die Trauerchöre im Finale weniger mächtig, auch hier herrscht der Eindruck eines großen Kammerspiels vor.
Bei der Besetzung der Rollen gibt es keine bekannten Namen - alles junge, unverbrauchte Stimmen, die im Fall von Romain Champion (Atys) oder Bénédicte Tauran (Sangaride) ohne weiteres mit der Vorgängerproduktion mithalten können. Champion hat ein nicht zu helles, in der Deklamation klares, zu dramatischer Expression fähiges Timbre. Tauran, die weniger engelgleich, dafür fraulicher und willensstärker als Agnes Mellon klingt, nimmt gleich beim berühmten Atys est trop heureux für sich ein.
Die Cybèle von Amaya Dominguez dagegen erreicht nicht ganz die unwiderstehliche Präsenz von Guillemette Laurens, deren dunkle Sinnlichkeit eine Klasse für sich darstellt und alle gelegentlichen stimmlichen Unsicherheiten vergessen macht. Laurens Klagegesang am Ende des 3. geht unter die Haut. Dominguez bleibt da blasser; hier leidet keine Frau, hier klagt die gekränkte Göttin. Dafür hat Dominguez eine expansivere und schlagkräftigerere Höhe, die sie vor allen bei Ausdruckshöhepunkten gutdosiert einzusetzen weiß.

Sieht man davon ab, dass es nur eine französische und englische Version der Texte gibt, ist das Beiheft sehr sorgfältig ediert, enthält viele farbige historische Abbildungen und dokumentiert auch die jüngsten Aufführungen durch Fotos. Reyne legt seine interpretatorischen Entscheidungen minuziös dar.

Im Ganzen ist dies eine Produktion, die, bei veränderter Akzentsetzung, durchaus auf Augenhöhe mit der legendären Vorgängerproduktion rangiert, ohne sie zu ersetzen.



Georg Henkel

Besetzung

Bénédicte Tauran: Sangaride
Amaya Dominguez: Cybèle
Romain Champion: Atys
Maud Ryaux: Doris
Maïlys de Villoutreys: Mélisse
Vincent Lièvre-Picard: Morphée
Aimery Lefèvre: Célénus
Matthieu Heim: Idas

Chor und Orchester „La Symphonie du Marais“

Hugo Reyne: Leitung
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06 bis 10 Mit (großen) Einschränkungen empfehlenswert
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19 bis 20 Überflieger