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Reviews

Koechlin, Ch. (Korstick, M.)

Klaviermusik Teil 1 („… des jardins enchantés …“) & Teil 2 (Les Heures persanes)


Info

Musikrichtung: Klassische Moderne Klavier

VÖ: 04.05.2009

Hänssler / Naxos CD / DDD / 2007 & 2008 / Best. Nr. 93.220 (Teil 1) & 93.246 (Teil 2)

Gesamtspielzeit: 143:20

CHROMATISCHE UNENDLICHKEIT

Nachdem bereits Hänsslers Serie mit Orchesterwerken von Charles Koechlin (1867-1950) aufgrund der musikalischen und künstlerischen Qualität für Aufsehen gesorgt hat, setzt der Pianist Michael Korstick mit seinen zwei Einspielungen diverser Klavierwerke jetzt noch einen oben drauf.
Denn der immer noch (zu) wenig bekannte französische Komponist behandelt das Klavier ohne Rücksicht auf die anatomischen respektive manuellen Möglichkeiten des Spielers. Sein auch notationstechnisch zunächst verwirrender Satz erschließe sich, so Korstick, erst über die Umsetzung in eine Choreographie der Pianistenhände (wobei eine dritte Hand hochwillkommen wäre …). Das Ziel sei „trotz der ständigen Sprünge und Lagenwechsel die Illusion erwecken zu können, dass voneinander unabhängige Linien und Klangflächen simultan in verschiedenen Registern des Instruments bruchlos ablaufen“.
Dies erfordert auch ein sicheres Gespür für die Klangfarben und den Pedaleinsatz. Man muss jede einzelne Note genau lesen und in den Gesamtbau einordnen. Erst dann beginnen Koechlins pianistische Zaubergärten zu gedeihen und zu blühen. Das scheinbar Leichte ist oft so schwer und doch darf man davon nichts bemerken.

Michael Korstick ist dieses handwerkliche und interpretatorische Kunststück jetzt bereits zweimal so gut gelungen, dass man nach diesen geheimnisvollen schwebenden Klangwelten süchtig werden muss. Was gibt es da zu hören? Mit Schlagworten wie bi- oder polytonal bzw. atonal kommt man bei der Einordnung Koechlins nicht weiter. Dass er mit Schichtungen von Quart-, Quint- und Nonenakkorden arbeitet, sogar mit 12-Ton-Feldern, besagt nicht viel über die Magie seiner Musik.
Die Poesie seiner gewiss sehr französischen, dabei eigenwilligen Klangwelten muss man wirklich hörend erfahren. Orientalisches und Exotisches hat den kreativen Prozess nicht nur beflügelt, sondern unter anderem in fremdartigen Melismen, archaische Stilisierung oder atmosphärischer Anmutung seinen Ausdruck gefunden. Wenn er weit entlegene Tonarten völlig selbstverständlich verbindet und keine Grenze bei den Modulationen zu kennen scheint, ist er Olivier Messiaen näher als seinen unmittelbareren Zeitgenossen Maurice Ravel und Claude Debussy. Vielleicht kann man die meisten von Koechlins Klavierwerken am besten als ein in die chromatische Unendlichkeit verlängertes Chopin-Nocturne beschreiben. Ihr Ton ist eher weich, lyrisch, verhangen. Dass die Musik dabei wunderschön, farbenreich und sinnlich klingt, ohne sich anzubiedern, zeigt seine hohe Sensibiltät für den Klang, der ihm wichtiger ist als technische Verfahren oder billige Effekte.

Koechlin spricht in seinen Memoiren von bestimmten Akkordverbindungen, die in ihm schon im Kindesalter Bilder von Nächten im silbernen Mondlicht oder von Landschaften unter Wasser mit ganz irrealen Wäldern ausgelöst hätten. Der Traum sei immer derselbe geblieben: Die Hinwendung zu den weiten und unwirklichen Horizonten, zur Unendlichkeit, zur geheimnisvollen Nacht, zum triumphalen Glanz des strahlenden Lichts. Diese Imaginationen sind z. B. in den 16 anspruchsvollen Stücken der Heures persanes zu faszinierenden und betörenden musikalischen Gestalten geronnen (Teil 2), die zum Mitphantasieren und träumenden Sich-Versenken geradezu einladen.
Es versteht sich fast von selbst, dass das Grundtempo dieser Musik ruhig, manchmal entrückt langsam ist, ohne dabei langatmig zu wirken. Diese Musik ist so stark, dass sie ihren eigenen Zeithorizont schafft, dem man sich als Hörer mit Behagen überlässt. Wenn Koechlin dann doch hin und wieder doch aus diesen ruhigen Bahnen ausbricht, dann bekommt seine Musik plötzlich eine kristalline, blendende Qualität.

In allen Stücken überzeugt die Führung der Stimmen in harmonischen Kontrapunkten. Doch vor allem im ersten Teil mit Klavierstücken, ein Sammelalbum mit dem treffenden Titel „… des jardins enchantés …“ finden sich geradezu klassische kontrapunktische Formen, z. B. Fugen. (Teil 1 ist wegen der größeren Fasslichkeit und größeren Kontraste zum Einstieg zu empfehlen, „Les Heures persanes“ sind fordernder.) Koechlin schätzte J. S. Bach sehr, empfand ihn aber offensichtlich nicht so sehr wie viele seiner Landsleute als abstrakt-objektiven Konstrukteur. Zumindest wirken seine Fugen bei aller Strenge nicht weniger farbig und organisch als die übrigen Stücke. Auch in diesen Miniaturen finden sich die Charakteristika von Koechlins Kunst vereint: Unaufdringlichkeit und höchste Komplexität (Otfrid Nies). Vielleicht wurde er deshalb so lange „überhört“. Postmoderne Ohren werden sich den Reizen seiner Musik kaum mehr verschließen können.



Georg Henkel

Trackliste

Teil 1: „… des jardins enchantés …“ 76:27
Andante quasi adagio 1ère version de Au loin op.
Sonatine op.87 No.1 Moderato, sans lenteur
Sonatine op.87 No.1 Andante moderato
Sonatine op.87 No.1 Bien allant, gai et doux
Sonatine op.87 No.1 Final : Allegro con moto
L'Album de Lilian op.139 No. 2
L'Album de Lilian op.139 No.3
L'Album de Lilian op.139 No.5
Sonatine op.87 No.2 Andante
Sonatine op.87 No.2 Andante espressivo
Sonatine op.87 No.2 Menuet
Sonatine op.87 No.2 Allegro
Paysages et marines op.63 Sur la falaise
Paysages et marines op.63 Matin Calme
Paysages et marines op.63 Promenade vers la mer
Paysages et marines op.63 Le Chant du chevrier
Paysages et marines op.63 Soir d'étè
Paysages et marines op.63 Ceux qui s'en vont pêcher au large dans la nuit
Paysages et marines op.63 Soir d'angoisses
Paysages et marines op.63 La Chanson des pommiers en fleurs
Paysages et marines op.63 Paysage d'octobre
Paysages et marines op.63 Chant de pêcheurs
Paysages et marines op.63 Dans les grands champs
Paysages et marines op.63 Poème virgilien
Sonatine op. 87 No.3 Scherzando molto moderato
Sonatine op. 87 No.3 Mouvement de Sicilienne
Sonatine op. 87 No.3 Allegro moderato
L'Album de Lilian op.149 No.2
L'Album de Lilian op.149 No.4
L'Album de Lilian op.149 No.8
Sonatine op.87 No.4 Animé
Sonatine op.87 No.4 Scherzando moderato
Sonatine op.87 No.4 Assez lent
Sonatine op.87 No.4 Final: Allegro con moto

Teil 2: Les Heures persanes 66:53

Besetzung

Michael Korstick: Klavier
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