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Reviews

Birtwistle, H. (Davis – Brabbins - Howarth)

The Mask of Orpheus / Secret Theatre u. a.


Info

Musikrichtung: Neue Musik

VÖ: 01.10.2008

NMC / Note 1 / DDD 1997 (Orpheus, 3 CD) – 1987 (Secret Theatre u. a.), Best. Nr. D050 (Orpheus) – D148 (Secret Theatre)

DER MYTHOS LEBT

Diese zwei Wiederveröffentlichungen laden dazu ein, einen der profiliertesten Gegenwartskomponisten Großbritanniens zu entdecken: Harrison Birtwistle.
Die Platte Secret Theatre enthält eine Reihe von Orchesterwerken, mit denen der 1934 geborene Künstler sich als würdiger Nachfahre in der Tradition der vielschichtigen „rituellen“ Musik eines Igor Stravinsky erweist. Man denkt vor allem an die frühen Ballette, die mit dem Sacre ihren epochalen Abschluss gefunden haben. Aber auch ein späteres Werk wie die hochverdichtete, kontrastreich gearbeitete Sinfonie für Bläser stand hörbar Pate.
Einige Passagen in Carmen Arcadiae Michanicae Perpetuum oder dem Silbury Air von Birtwistle klingen tatsächlich so, als habe der Komponist das Werk des Russen klanglich in die Gegenwart des Entstehungsjahres 1977 projiziert. Es handelt sich weniger um echte Zitate denn verfremdete Anklänge. Stravinsky geht hier gleichsam rückwärts und steht auf dem Kopf. Bei aller Eckigkeit, Abstraktion und sinnlichen Schrägheit, die die unverkennbar zeitgenössische Musiksprache Birtwistles auszeichnet, bleibt das rhythmische, mal vital, mal barbarisch wild pulsierende Element eine treibende Kraft.

Nicht weniger als das klangliche Element dürfte Birtwistle der anti-romantische und anti-expressionistische Ton Stravinskys fasziniert haben. Unverkennbar ist weiter die gemeinsame Vorliebe für antike oder archaische mythologische Stoffe. Als 1986 die in mehrjähriger Arbeit entstandende erste abendfüllende Oper Birtwistles, die „lyrische Tragödie“ The Mask of Orpheus uraufgeführt wurde, hat der Komponist einen in mehrfacher Hinsicht klassischen Stoff verarbeitet: Der Orpheus-Mythos gehört nicht nur zu den großen Erzählungen der antiken Kultur, sondern lieferte den Stoff für die ersten Opern, die um die Wende zum 17. Jahrhhundert komponiert wurden. Claudio Monteverdis „musikalische Fabel“ L’Orfeo stellt einen ersten Höhepunkt dar. Und im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts läutet Christoph Willibald Gluck mit seiner programmatischen Komposition Orfeo e Euridice eine Reform der Oper ein, die sich fortan nicht mehr durch dekorativen Ziergesang, sondern durch emotionale Wahrheit auszeichnen sollte.
Auch Birtwistle suchte nach neuen Wegen. Sein Musiktheater gewinnt seine Kraft durch die Rückbesinnnung auf die Logik des Mythos und des Rituals. Also: Ein idyllisches Schäferspiel darf man nicht erwarten. Die (Halb)Götter in Birtwistles Welt sind oft unheimliche Wesen mit Gefühlen und Schicksalen, die in ihrer Ekstase, Intensität aber auch Grausamkeit das menschliche Maß übersteigen. Birtwistles Musik spiegelt in jedem Moment die ambivalente Rolle des Orpheus im Kräftefeld zwischen Apoll (der sein Vater war) und Dionysos (von dessen Mänaden er zerrissen wird). Mit seinem Werk ging Birtwistle auf die antiken Wurzeln der Geschichte zurück und verfolgte zugleich deren Entwicklungen durch die Jahrhunderte. Die Masken des Orpheus-Mythos sind eben auch seine zahllosen Varianten und Transformationen.

Entsprechend komplex und gestaltreich in Zeit und Raum entfaltet sich die Geschichte auch in Birtwistles monumentaler Oper. Für ein archaisches Kolorit sorgt bereits das nur mit Bläsern und Schlagzeug besetzte Orchester, das von feinen Schattierungen bis hin zu brutalen Klangballungen über eine große Palette gebietet. Dazu kommt eine 3-D-Liveelektronik. Das Material der Zuspielklänge wurde aus den manipulierten Klängen einer Harfe sowie einer synthetischen Stimme gewonnen, die man mit dem damals noch ganz neuen Programm „Chant“ des Pariser IRCAM erzeugt hat.
Berücksichtigt man, wie schnell elektronische Sounds der Abnutzung unterliegen, dann hat sich nicht zuletzt dieser Teil der Partitur eine erstaunliche Frische bewahrt. Die klirrenden, pochenden und flimmernden, durch den Raum wirbelnden Klänge besitzen viel Atmosphäre, zumal die Phantasie des Komponisten unerschöpflich ist in der Erfindung neuer Figurationen und unverbrauchter rhythmischer Konstellationen. Die übermenschliche, dräuende Chant-Stimme, die das göttliche Organ des Apoll repräsentiert und durch über 70 Einwürfe „von oben“ im ganzen Werk als „Spielführer“ präsent ist, hat es dagegen schwerer. Hier sorgt der Verbrauch durch die Pop-Kultur inzwischen für etwas banale Horror-Assoziationen, die freilich durch die konsequente Einbindung in den großen Kontext des Werkes wieder aufgehoben werden.
Die Gesangspartien bewegen sich zwischen erregter Deklamation bis hin zum artikulierten Schrei und großen lyrischen Auf- und Abschwüngen, wobei es Birtwistle auch hier gelingt, altbackene Opern-Klischees zu vermeiden. Obwohl das Werk über zehn Jahre mit Unterbrechungen entstand, wirkt seine Klangwelt doch wie aus einem Guss. Dafür sorgt nicht zuletzt die mit raffinierten Wiederholungen und Variationen operierende Partitur. Die Masken des Orpheus sind wirklich ein rituelles Operntheater, das mit musikalischen Archetypen aufwartetet, deren Präsenz man sich nur schwer entziehen kann. Zumal die Ausführung durch alle Beteiligten keine Wünsche offen lässt.

Das Booklet enthält in beiden Fällen Texte nur in englischer Sprache, beim Orpheus gibt es kein Libretto!



Georg Henkel

Trackliste

Mask of Orpheus - Total 162:17

The Secret Theatre - Total: 57:54
01 The Secret Theatre 9:25
02-07 Silbury Air 16:15
08-21 The Secret Theatre 31:52

Besetzung

Diverse Solisten
BBC Symphony Orchestra
BBC Singers
Andrew Davis & Martin Brabbins: Dirigenten

London Sinfonietta
Elgar Howarth: Dirigent
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