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Lagrime di San Pietro / Melancholia
Info
Musikrichtung:
Renaissance A-Capella
VÖ: 01.11.2003 (Christophorus / Note 1) Best. Nr. CHR 77255 Gesamtspielzeit: 76:36 |
MUSIKALISCHE RÜCKBLICKE UND BEKENNTNISSE
Die letzten Jahre von Orlando di Lasso (um 1532-1594) waren von ausweglosen Depressionen überschattet, in denen er so gut wie nichts komponierte. Erst kurz vor seinem Tod wurde das kreative Feuer noch einmal entfacht: Mit den Lagrime di San Pietro, den Bußtränen des Hl. Petrus, schuf Lassus nicht nur ein letztes Meisterwerk, sondern legte auch ein persönliches Bekenntnis ab. Offenbar identifizierte es sich selbst mit jenem Jünger, der den Herrn vor dem ersten Hahnenschrei dreimal verleugnet hatte.
Man kann darin ein Echo seiner seelischen Erkrankung sehen und zugleich eine Form der Selbsttherapie: die schöpferische Bewältigung der eigenen, wechselvollen Biogaphie, der religiösen Skrupel und pessimistischen Weltsicht. Der Komponist hat es ein Jahr vor seinem Tod so ausgedrückt: Er betrachte die überquellende Virtuosität seiner Jugendwerke wie die Triebe und Früchte eines jungen Weinstocks, und er frage sich, ob er nicht als knorriger, geborstener Stamm zwar weniger, aber süßeren Most produziert habe. (Man höre im Vergleich zu den Lagrime nur seine frühen frivolen Moresken, denen weder Fäkalien noch Sexualien fremd sind, und wird verstehen, was Lasso meint.)
Die Lagrime sind süß und herb zugleich: eine höcht affektvolle siebenstimmige Meditation über den Verrat des ersten Jüngers, Drama und Reflexion in einem. Die Syntax des Satzes mag noch die der späten Renaissance sein, die Grammatik der wild wuchernde Harmonien und extrovertierten Gestik weist bereits in den Barock hinein. Michael Procter, der Leiter des Ensemble Hofkapelle, mutmaßt, dass auch der zweite hier eingespielte Zyklus zum Spätwerk gehören könnte. Der Titel Melancholia legt dies ebenso so nahe wie die verwandte musikalische Sprache.
Das Ensemble hat sich zum Ziel gesetzt, bei Lassos Opus ultimum nicht - wie so oft üblich - im Klang zu baden, sondern die zukunftsweisenden Momente zu betonen. Das ist nur bedingt gelungen. Gewiss sorgen die flüssigen Tempi dafür, dass die Musik sich nicht in ätherischen Stimmgeflechten erschöpft. Auch ergibt die Besetzung der Cantus- und Altus-Partien mit Männerstimmen einen kernigen, geschärften Klang und ermöglicht Farbkontraste, von der vor allem die virtuelle Zweichörigkeit der Lagrime profitiert. Vergleicht man die Neuproduktion aber z. B. mit der rund zwanzig Jahre alten Einspielung des Consort of Musicke (Decca), dann hört man schnell, dass es damit allein nicht getan ist. Auch das Consort badet sicher nicht im Klang (das tut eher Philippe Herreweghe in seiner Einspielung (Harmonia Mundi)). Es läßt sich aber genügend Zeit, die Mikro-Dramaturgie der einzelnen Sätze zu entwickeln. Dagegen kommt der Vortrag von Hofkapelle zwar insgesamt kraftvoller, aber viel gleichförmiger herüber. Was fehlt, ist jene Expressivität und jene Differenzierung der Darstellung, die das unerhört Neue dieser Musik herausbringt, die Procter im Beiheft nicht zu Unrecht als eines der bedeutendsten Werke der geistlichen Musik bezeichnet.
Georg Henkel
Trackliste
22-34 Melancholia
Besetzung
Reiner Schneider -Wattenber (Altus)
Jörg Deutschwitz - Johannes Günther - Pierre Funck (Tenor)
Ulrich Meier (Bassus)
Ltg. Michael Procter
So bewerten wir:
00 bis 05 | Nicht empfehlenswert |
06 bis 10 | Mit (großen) Einschränkungen empfehlenswert |
11 bis 15 | (Hauptsächlich für Fans) empfehlenswert |
16 bis 18 | Sehr empfehlenswert |
19 bis 20 | Überflieger |