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Helicopter String Quartett
Info
Musikrichtung:
Neue Musik Streichquartett
VÖ: 13.06.2008 (Medici Arts / Naxos / DVD 1995 / Best. Nr. 3077508) Gesamtspielzeit: 77:00 |
ABGEDREHT
Um Missverständnisse zu vermeiden: Diese DVD bietet keine Multi-Media-Gesamtaufführung von Karlheinz Stockhausens ungewöhnlichem Helikopter-Streichquartett. Es handelt sich um eine Dokumentation von Frank Scheffer, die vor allem die Vorbereitungen bis zur Premiere des Stücks beim Hollandfestival 1995 minutiös nachzeichnet.
Natürlich gibt es da auch viele Ausschnitte von dem Werk zu hören. Aber wer das rund 30 Minuten dauernde Stück als Ganzes kennenlernen möchte, bleibt auf eine CD-Gesamteinspielung angewiesen. Im normalen Plattenhandel ist eine Version erhältlich, die auf Wunsch der Widmungsträger, des Arditti String Quartets, unter Stockhausens Regie mit zugemischtem Helikoptersound im Studio entstand (Montaigne 782097). Einen Mitschnitt der echten Uraufführung gibt es beim Stockhausen-Verlag (Vorkasse).
Als Einführung in das Gesamtwerk oder in die Ästhetik Stockhausens ist dieser Film ebenfalls nur bedingt geeignet. Scheffer fokussiert ausschließlich auf das Helikopter-Quartett. Zwar erfährt der Betrachter, dass es sich um eine Szene aus Stockhausens Oper Mittwoch aus Licht handelt, die ihrerseits Teil eines sieben Teile umfassenden Licht-Zyklus ist, an dem Stockhausen seit 1977 gearbeitet hat und den er noch vor seinem Tod 2008 abschließen konnte. Aber darüber hinaus bleibt der Kontext dunkel.
Das ist in sofern nicht problematisch, als Stockhausen die einzelnen Szenen seines Mammutprojektes so konzipiert hat, dass sie auch separat aufführbar sind.
Da Licht auf einer dreischichtigen musikalischen Superformel beruht, die ihrerseits aus unterschiedlichen Gliedern besteht, die im ganzen Zyklus präsent sind, enthalten (oder spiegeln zumindest) selbst kleine Teile immer auch das Ganze des Werks (so wie eine Körperzelle immer die vollständige DNA enthält). Auf die Formel und ihre Glieder nimmt Stockhausen in einem der Interviews im Rahmen der Dokumentation Bezug, ohne dass das im Rahmen der Dokumentation vertieft würde.
Nur kurz geht Stockhausen einmal auf sein künstlerisches Ideal ein: „Meine Musik soll fliegen, weil ich fliege.“ Eine Philosophie habe er nicht. Das Quartett beruhe auf einem Traum. Das muss genügen. Auch das sehr schmale Beiheft bringt auf zwei Seiten nicht mehr als die nötigsten Infos.
Dennoch bekommt man einen interessanten Einblick in Stockhausen Persönlichkeit bei der Arbeit und den Werkstattbetrieb, den er unterhält, um sein Werk in der nötigen Perfektion aufführen zu lassen.
Seine Interpreten sind in diesem Fall die Mitglieder des Arditti String Quartets. Die vier Musiker haben in vier Helikoptern Platz zu nehmen und eine im Detail ausgesprochen differenzierte Musik auszuführen, die im Wesentlichen aus ineinander verschlungenen Glissandi sowie subtil variierten Tremoli und Tonwiederholungen besteht. Diese nehmen den Klang der Rotoren auf und interagieren mit ihm - ausgesteuert von Stockhausen am Mischpult.
Das Ganze wird mit großem technischen Aufwand in den Konzertsaal auf diverse Lautsprecher und Bildschirme übertragen. Im Großen ergibt sich da ein unaufhörliches Vibrieren, Flirren, Heulen und Rauschen, bei dem instrumentale und maschinelle Klänge sich derart vermischen, dass irgendwann nicht mehr klar ist, was von den Musikern und was von den Helikoptern kommt. Obwohl der globale Klangeindruck recht monolitisch ist, ergeben sich im Kleinen dieser unendlichen, ineinander verschlungenen Rotationsbewegungen immer neue, spannende Klangmomente. Die Musik hebt tatsächlich ab, kreist, wirbelt und schlägt die verrücktesten Loops. Lediglich die von den Quartettmitgliedern hineinzurufenden Zahlenkolonnen wirken trotz der glissandieren Intonation etwas maniriert (es handelt sich freilich um eine Elemnet der Superformenl). Das ist wirklich abgedreht, aber irgendwie auch wieder so konsequent konzipiert und faszinierend umgesetzt, dass man dranbleibt. Wobei Stockhausens unbedingte Identifikation mit der Sache und sein unbestreitbares Charisma zusätzlich für seine Musik einnehmen. Dennoch kann ich gut verstehen, wenn sich das jemand nicht eine volle halbe Stunde pur anhören möchte … Man muss bereit sein, Hörgewohnheiten aufzugeben und den akustischen Horizont zu erweitern.
Stockhausens Relevanz wird in den Feuilletons immer wieder betont, selbst viele Popmusiker berufen sich auf ihn und seine elektronischen Sounderfindungen. Er gilt darum auch als „Papa Techno“, was aber allenfalls vom technischen Standpunkt aus stimmt.
Gespielt wird er in Deutschland und zumal Köln, in dessen Nachbarschaft er lebte, aber relativ selten. Zu seinem 80. Geburtstag am 22. August ist immerhin ein Konzertabend in Köln angesetzt, beim WDR 3 gibts einen Stockhausen-Tag bis in die frühen Morgenstunden - inklusive Helikopter-Quartett -, der SWR 2 bringt eine Collage aus "Licht". Diese DVD kommt also gerade recht, um einen eigenwilligen und umstrittenen, dabei bis zuletzt ungemein kreativen Musiker mit einer geradezu übermenschlichen Hingabe, Arbeitsleistung und Disziplin zu erleben, dessen riesiges Gesamtwerk in weiten Teilen immer noch zu wenig bekannt ist.
Georg Henkel
Besetzung
Klangregie: Karlheinz Stockhausen
Regie: Frank Scheffer
So bewerten wir:
00 bis 05 | Nicht empfehlenswert |
06 bis 10 | Mit (großen) Einschränkungen empfehlenswert |
11 bis 15 | (Hauptsächlich für Fans) empfehlenswert |
16 bis 18 | Sehr empfehlenswert |
19 bis 20 | Überflieger |