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Reviews

Rameau, J.-P. (Kiener)

Sämtliche Werke für Cembalo


Info

Musikrichtung: Cembalo

VÖ: 20.10.2003

(Harmonia Mundi / Helikon) 2 CD DDD (AD 2002) / Best. Nr. HMI 987039.40

Gesamtspielzeit: 120:29

Internet:

Harmonia Mundi

FORTSCHRITT UND RÜCKSCHRITT

CEMBALO-AVANTGARDE

Bevor Jean-Philippe Rameau (1683-1674) im späten Alter von 55 Jahren die französische Barockoper musikalisch in einer Weise revolutionierte, dass manchen Zeitgenossen das Hören verging, kündigte sich sein Genie bereits in den drei zwischen 1706 und 1728 publizierten Sammlungen mit Cembalo-Musik an.
Manches im Premier Livre steht noch hörbar in der Couperin-Nachfolge. Dagegen weisen die Stücke in der 2. Sammlung von 1724 mit ihrer schwungvollen Ryhthmik (Tambourin) oder betörenden Zartheit (L'Entrien des Muses), den ohrwurmverdächtigen Einfällen (Niais de Sologne) und amüsant-raffinierten lautmalerischen Wendungen (Le Rappel des Oiseaux) schon in eine andere Richtung. Spätestens aber mit dem programmatischen Le Enharmonique aus der 3. Folge von 1728, wo unvermittelt aus d-Moll f-Moll wird, tritt dann der Avantgardist Rameau auf den Plan. Hier kündigt sich schon die Funktions-Harmonik von Klassik und Romantik an.

INTERPRETATORISCHE DURCHBRÜCHE ...

Das Cembalo ist ein heikles Instrument. Sein spitziger, kurzatmiger und dynamisch starrer Klang verweigert sich zunächst dem Ideal der Sanglichkeit. Das Verdikt vom "Nähmaschinensound" hängt selbst Intrumenten historischer Bauart an. Nicht selten zu Recht. Dass man diese "automatisierte Laute" tatsächlich zum Singen bringen kann, hat eine junge Intrepretengeneration bewiesen.
1991 demonstrierte Christophe Rousset (L'Oiseau-Lyre / Decca 425 88-2) mit einer maßstabsetztenden Gesamteinspielung des Rameauschen Oeuvre, dass die vermeintlichen Grenzen des Cembalos lediglich die Grenzen des Intrepreten sind. Rousset nahm sich dieser Musik nicht nur unverkrampft und unbelastet durch die historischen Vorbilder an. Technisch über jeden Zweifel erhaben, geriet seine Interpretation dank der dynamischen Artikulation und intelligenten Vituosität unerhört plastisch und facettenreich. Da ratterte und stolperte nichts. Eindrucksvoll wurden dagegen die Vorzüge des Instruments zu Gehör gebracht: Klarheit, Beweglichkeit, Brillanz. Ganz zu Schweigen von dem Vergnügen, die Rameaus Musik in dieser Darbietung bereitete.

... UND, LEIDER, AUCH RÜCKSCHRITTE

Im Vergleich dazu ist die Neueinspielung von Michel Kiener ein Rückschritt.
Gleich das erste Stück, ein Prelude, dessen erster Teil vom Interpreten rhythmisch frei zu gestalten ist, zeigt, dass es auch diesmal nicht am Instrument liegt. Dessen offensiver, obertonreicher, dabei in allen Registern ausgewogener Klang wäre durchaus geeignet gewesen, Rameaus Musik neue Seiten abzugewinnen. Doch wo Rousset einen weit atmenden Spannungsbogen entstehen läßt, zerfällt Kiener das Stück förmlich unter den Fingern. Die flüssige Eleganz und 'swingende' Leichtigkeit, die der französischen Cembalomusik überhaupt und Rameaus Kompositionen insbesondere so angemessen ist, geht seinem Spiel ab.
Z. B. der Rigaudon, der von Kiener ungleich behäbiger dargeboten wird als von Rousset. Die Rhythmen pulsieren hier nicht, sie stampfen. Bei so viel 'Rustikalität' tritt auch der berühmte Tambourin, bei dem Rameau wie so häufig eine geradezu frenetische Intensität erreicht, enttäuschend plump auf der Stelle - viel zu schwer kommen die wuchtigen "Trommelschläge" der linken Hand daher, viel zu unbeweglich ist dagegen die andere Hand. Die Phrasen der Courante aus der Sammlung von 1724 rucken so unruhig, wie ein schlecht geschnittener Film.
Häufig sind die Tempi einfach zu langsam gewählt bzw. werden nicht durch eine entsprechende Gestaltung aufgefangen. Ein dankbares Virtuosenstück wie Les Cyclops gerät so zu steif dargebotenen Etüde. Und weil hier die Agogik auf der Strecke bleibt, zirpen die Vögelchen in Le Rappel des Oiseaux in trostloser Mechanik. Ganz zu schweigen von dem trickreichen Vexierspiel der Trois mains: Verblüfft bei Rousset die Illusion eines dreihändigen Spiels, nivelliert Kiener selbst die Interaktion der beteiligten zwei Hände so weit, dass das Stück regelrecht unkenntlich wird.

Kieners Spiel ist einfach über weite Strecken unidiomatisch: Man gewinnt den Eindruck, dass er sich in einer Sprache ausdrückt, deren Vokabular er zwar beherrscht, die ihm im Grunde aber fremd ist.
Enttäuschend.



Georg Henkel

Trackliste

CD 1 (78:57)
01-10 Premier livre de pièces de clavecin (1706)
11-29 Pièces de clavecin (1724, rev. 1731)

CD 2 (70:48)
01-15 Nouvelles suites de pièces de clavecin (ca. 1728)
16 La Dauphine (1747)

Besetzung

Michel Kiener
Cembalo - Kopie nach Nicolaus Blanchet, Paris 1730
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So bewerten wir:

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