····· Wolvespirit verkaufen Bullshit ····· Rock of Ages - Zusatzshows in 2025 ····· Ally Venable veröffentlicht Video zur neuen Single „Do you cry“ ····· Das zweite Album von Wizrd kommt zum Nikolaus ····· 40 Jahre Helloween - Das muss gefeiert werden ·····  >>> Weitere News <<<  ····· 

Reviews

Martin, F. (Reuss)

Le vin herbé. Der Zaubertrank


Info

Musikrichtung: 20. Jh. Oper / Oratorium

VÖ: 21.03.2007

harmonia mundi / harmonia mundi
2 CD (AD DDD 2006) / Best. Nr. HMC 901935.36


Gesamtspielzeit: 112:00

SIRENENGESÄNGE

Die tragische Liebe von Tristan und Isolde scheint in Wagner wollüstig-wahnsinniger Oper den ultimativen musikalischen Ausdruck gefunden zu haben. Isoldes Liebestod hat Generationen von Musikliebhabern in emotionalen Taumel versetzt und schweißnass in Theater- oder Wohnzimmersessel gepresst. Jeder Versuch, den Mythos danach noch einmal zu vertonen, muss musikalisch einen anderen Weg einschlagen.

Der Schweizer Komponist Frank Martin (1890-1974) hat diesen anderen Weg Anfang der 1940er Jahre mit seinem Chor- und Ensemblewerk Le vin herbé - Der Zaubertrank beschritten. Auf der Grundlage von Joseph Bédiers moderner französischer Adaption der mittelalterlichen Geschichte hat er ein rund zweistündiges Werk geschaffen, das auf einem schmalen Grat zwischen Oper, Oratorium und Kantate balanciert und für konzertante wie szenische Darbietungen gleichermaßen offen ist.
Der Chor als Erzähler und Kommentator trägt musikalisch die Hauptlast. Fast durchgehend homophon gesetzt, treibt er das Drama voran. Zahlreichen Solisten sind die handelnden Personen anvertraut; in mehr oder weniger umfangreichen ariosen Abschnitten wird das Geschehen entwickelt oder reflektiert. Anders als bei Wagner bestimmt bei Martin durchweg ein Ensemblecharakter den Fluss der Musik. Die acht Instrumentalsolisten - sieben Streicher plus Klavier - werden lediglich zur Konturierung und farblichen Differenzierung eingesetzt. Vom Orchesterauschen Wagners keine Spur.
Martin geht mit Bédiers streng an den mittelalterlichen Vorlagen orientierten Fassung auf ältere musikalische Formen wie Psalmodie, Choralgesang und Madrigal zurück. Die Renaissance drängt sich als stilbildende Epoche eher auf als die Spätromantik. Damit freilich entpuppt sich das Werk durchaus als Vertreter einer klassischen Moderne, die Anfang des 20. Jahrhunderts auch in der Alten Musik ihre Inspirationen und Vorbilder suchte. Dass die Chromatik der farbigen Musik zwölftönig organisiert ist, hört man ihr nicht unbedingt an; Martin hat sich von Schönberg anregen lassen, die Tonalität jedoch nicht gänzlich aufgegeben.

Musikalisch ist das Ergebnis ein zweistündiger Sirenengesang: Die zwölftontechnisch erweiterte Tonalität Martins ist einem Ideal von harmonischer wie melodischer Sinnlichkeit und Klangschönheit verpflichtet, das unmittelbar gefangen nimmt. Die herbe Süße der Musik kennt nicht Wagners exaltierte Steigerungen und pathetischen Ausbrüche, findet jedoch für die übermenschliche Liebe von Tristan und Isolde einen Ton von konzentrierter Expressivität, innig, zärtlich und elegisch. Statt das Geschehen in der Musik zu psychologisieren, setzt Martin auf eine gewisse Objektivität, die der mittelalterlichen Vorlage eher entspricht als das „Überbewusstsein“ Wagners. Diese Objektivität äußert sich auch in der relativen Strenge des musikalischen Materials; Le vin herbé gemahnt mit formelhaften Wiederholungen und Variationen mitunter an ein Ritual.

Makellos ist die Interpretation durch den hervorragend disponierten RIAS-Kammerchor, der Präzision und Klangschönheit perfekt miteinander verbindet. Diese Klangkultur verlängert sich gleichsam in die Solisten hinein, von denen vor allem Sandrine Piau als Isolde erneut durch eine hinreißende Darstellung brilliert. Perfektes Gegenstück ist Jutta Böhnerts schön timbrierte Brangäne. Reiches tenorales Kolorit verleiht Steve Davislim dem Tristan. Nicht weniger differenziert agiert das Scharoun-Ensemble. Unter der Leitung von Daniel Reuss ist eine exquisite Einspielung entstanden, eine angemessene Nachfolgerin zu der exzellenten vorjährigen Stravinsky-Produktion. Warum dann nicht 20 Punkte? Es mag bei dem insgesamt vorzüglichen Niveau beckmesserisch klingen: Reuss’ und sein Ensemble beschreiten bei ihrer Interpretation den "Weg nach innen". Martins Musik, so kontemplativ sie mitunter tönt, hätte jedoch einen etwas kernigeren Zugriff mit dynamischen Spitzen durchaus vertragen.



Georg Henkel

Besetzung

Sandrine Piau, Steve Davislim, Jutta Böhnert, Hildegard Wiedemann, Ulrike Bartsch, Joachim Buhrmann, Roland Hartmann

RIAS Kammerchor
Scharoun Ensemble
Ltg. Daniel Reuss
Zurück zum Review-Archiv
 


So bewerten wir:

00 bis 05 Nicht empfehlenswert
06 bis 10 Mit (großen) Einschränkungen empfehlenswert
11 bis 15 (Hauptsächlich für Fans) empfehlenswert
16 bis 18 Sehr empfehlenswert
19 bis 20 Überflieger