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Carmina Burana – Officium lusorum
Info
Musikrichtung:
Mittelalter vokal / instrumental
VÖ: 01.07.2006 Ricercar / Note 1 CD (AD 2005) / Best. Nr. RIC 247 Gesamtspielzeit: 76:59 |
VERKEHRTE WELT EINST UND JETZT
Im Mittelalter waren die letzten zwölf Tage des Jahres mancherorts eine Zeit, in denen die religiöse Welt durch wilde Narrenmessen rituell auf den Kopf gestellt wurde. Diese Satire in der Kirche hatte ihren guten Grund: Ehrwürdige Tradition und heilige Ordnung konnte gerade im Bewusstsein um die (hier mit spielerischem Ernst) entfesselten Chaos-Mächte mit erneuter Kraft beschworen und für ein weiteres Jahr bestätigt werden. Für kurze Zeit feierte das Profane in den heiligen Hallen auch in seinen derbsten Formen fröhliche Urständ, damit das Heilige dorthin umso triumphaler zurückkehren konnte. So ließ man unter anderem Kinderbischöfe auf dem Thron des Bischofs Platz nehmen und erlaubte Würfelspiel auf dem Altar, der derweil von als Frauen verkleideten Klerikern umlagert wurde. Musiker und Jongleure verwandelten den Kirchenraum in einen Jahrmarkt. Auch die heiligen Texte der Messe wurden verkehrt: Aus Segenssprüchen machte man Flüche, gebetet wurde im Namen des „Herrn Würfels“, das Evangelium verkündete die Botschaft von Spielern, die als Bankrotteure ihre jammervolle Passion erlebten. Das Ganze geschah übrigens für sehr lange Zeit mit Billigung und Unterstützung der Geistlichkeit, die sich ja auch selbst an der Show beteiligte! Heute ist von solchen Lustbarkeiten nur der weltliche Karneval übrig geblieben. Und der darf auch den Kölner Dom nur für einen Anstandsbesuch betreten.
REKONSTRUIERTER WITZ?
Versuche, eine solche Narrenmesse wie z. B. das Officium Lusorum aus der berühmten Handschrift Carmina Burana auch für heutige Ohren so zu rekonstruieren, dass die bissige Ironie und der subversive Witz zünden, hat es schon mehrere gegeben. Diesmal ist es die französische Gruppe Millenarium, die sich ohne falsche historistische Scheuklappen daranmacht, die katholische Liturgie des Mittelalters mit allen möglichen und unmöglichen musikalischen Mitteln auf Links zu krempeln. Dabei werden die Spielleute durch Sänger des Choeur de Chambre de Namur, durch die Choralschola Psallentes und den Kinderchor der Musikschule Forbach tatkräftig unterstützt.
Herausgekommen ist eine sinnlich und modern klingendes liturgisches Happening, errichtet auf den Fundamenten der altehrwürdigen Gregorianik. Die wird von den Psallentes-Sängern zu ausgewählten Abschnitten mit heiligem Ernst und schönen Stimmen vorgetragen. Millenarium hat sich nämlich darauf beschränkt, nur die täglich wechselnden Propriums-Teile (Einzug, Tagesgebete, Lesungen, Hochgebet usw.) in der Parodiefassung der Carmina Burana zu präsentieren. Die unveränderlichen Ordinariums-Teile der Messgesänge (Kyrie, Gloria, Credo, Sanctus und Agnus Dei) haben die Musiker im Wissen um die mittelalterliche Kritik an derlei Späßen unverändert gelassen.
Auf diese Weise bekommt man als Hörer auch gleich das historische Positiv mitgeliefert, das in der Narrenmesse in sein Gegenteil verkehrt wird. Denn die komische Energie dieser Verdrehung wird ja nur dann wirksam, wenn der korrekte Code bekannt ist.
Genau damit dürfte es wohl im Zeitalter des liturgischen Pluralismus bei vielen Hörern hapern. Millenarium setzt daher - wie schon die meisten ihrer Vorgänger - zur Verdeutlichung auf schräge Töne, Katzenmusik und Höllenlärm, satirische Überzeichnung, Husten, Rülpsen, Lachen und Quatschen, skurrile Einfälle und schrilles Klerogetue: der Lektor wird hier regelrecht zur Operndiva. Das Ensemble reichert den neogotischen Soundmix außerdem geschickt mit Zitaten aus Pop, Neuer Musik und Gospel-Gottesdiensten an und hat dabei hörbar seinen Spaß. So kriegen alle ihr Fett weg in dieser Collage.
Das ist für uns heute witzig, wenn man das würdige Sonntagshochamt im Petersdom als Parodievorlage nimmt - und mutet bereits ein bisschen weniger überdreht an, wenn man beispielsweise einen experimentellen Kinder- oder Jugendgottesdienst zugrunde legt: aus mittelalterlicher Sicht wohl wahre Narrenmessen!
Helau und Amen: Dass sich pralles Leben und Kunstgenuss, Party und Mystik, Erbaulichkeit und Suff sich nicht ausschließen müssen, demonstriert diese moderne, auch tontechnisch gelungene Adaption des Officium lusorum aufs Trefflichste. Überdies stößt die Aufnahme nicht nur ein Fenster in die Vergangenheit auf, sondern riskiert zugleich einen Blick auf die mitunter nicht weniger komische und widersprüchliche Gegenwart. Was will man mehr?
Georg Henkel
Besetzung
Kammerchor Namur
Psallentes
Kinderchor der Schule von Forbach
So bewerten wir:
00 bis 05 | Nicht empfehlenswert |
06 bis 10 | Mit (großen) Einschränkungen empfehlenswert |
11 bis 15 | (Hauptsächlich für Fans) empfehlenswert |
16 bis 18 | Sehr empfehlenswert |
19 bis 20 | Überflieger |