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La Clemenza di Tito
Info
Musikrichtung:
Oper
VÖ: 15.05.2006 Harmonia Mundi / Helikon 2 SACD hybrid (DDD 2005) / Best. Nr. HMC 801923.24 Gesamtspielzeit: 135:00 |
WIE IM FILM
Die Originalklangbewegung habe auf alles eine Antwort, stelle aber allzu oft keine Fragen mehr und musiziere nach einem ideologisch-dogmatisch starren Regelwerk. So lautet - sinngemäß - die Kritik des Dirigenten und Pianisten Daniel Barenboim an der historischen Aufführungspraxis (HAP) in einem kürzlich veröffentlichen Interview.
Nun, liest man den Beitrag von René Jacobs, einem erwiesenen HAP-Experten, im Beiheft zu seiner neuesten Mozart-Einspielung, dann wird man den Eindruck gewinnen, dass die historische Aufführungspraxis sehr wohl (immer noch) neue Fragen stellt und gerade deshalb auch immer wieder neue Antworten findet. Antworten, die keine letztgültige Deutung eines musikalischen Kunstwerkes definieren, sondern unverbrauchte Perspektiven für die moderne Interpretation eröffnen wollen. „Sieben vorgefasste (und irrige Meinungen) über La Clemenza di Tito“ hat Jacobs seinen Essay überschrieben. Darin widerlegt er z. B., dass Mozart 1791 an der Opera seria, diesem barocken Schlachtross fürstlicher Selbstdarstellung, kein Interesse mehr gehabt habe. Oder dass die Rezitative (da nicht von Mozart) drittklassig und kürzungsbedürftig seien. Oder die Instrumentation eher dürftig. Oder dass der Stilmix von ernsten Tönen und Singspiel-Leichtigkeit Ausdruck für Mozarts Unentschlossenheit bei diesem Projekt seien. Kurz: Dass es sich bei Mozarts vorletzter Oper eben nur um einen gut bezahlten Schnellschuss mit ein paar interessanten Nummern, nicht aber um ein geniales Werk auf der Höhe der vorangegangenen reifen Opern (Figaro, Don Giovanni, Cosi) handle. Umso überraschender, dass dann gerade diese Oper nach Mozarts Tod die Hitliste seiner meistgespielten Werke am Anfang des 19. Jahrhunderts angeführt hat!
Ob man das Werk nun für einen großen Wurf hält oder nicht: Jacobs führt vor Ohren, wie komplex Mozarts Komposition in der Tat ist. Komplex, weil in ihr Altes (die Welt des Adels) und Neues (Aufklärung und frühbürgerlicher, revolutionärer Elan) auf mitunter explosive Weise miteinander konfrontiert wird. Was, möchte man spekulieren, hätte Mozart der Gattung noch an neuem Leben einflössen können, wenn er Gelegenheit und dramaturgisch befriedigendere Libretti gehabt hätte?
Man höre und staune, wie farbig, frisch und gegenwärtig der Tito bei Jacobs klingt. Der belgische Sänger und Dirigent hat sich durch die Musiktraktate der Mozartzeitgenossen gearbeitet, um die historische Gesangspraxis bei den Rezitativen zu erkunden. Neben improvisierten Verzierungen, genauer Beachtung der Sprachmelodie und einigen Retuschen sorgen vor allem das agile Hammerklavier und ein Cello dafür, dass die musikalische Spannungskurve bei den zugegeben textlastigen Abschnitten zwischen den Arien und Ensembles in keinem Moment abfällt.
Jacobs hat ein Sängerteam versammelt, dass sich auf seine akribisch detailfreudige, expressive und zugleich geschlossene Deutung eingelassen hat. Vor allem Alexandrina Pendatchanska als Vitellia lotet alle Möglichkeiten stimmlicher Charakterisierungskunst aus, um die Ambivalenz dieses maßlosen Charakters nachzuzeichnen. Vom dräuenden Brustregister bis zum flirrenden Spitzenton reicht die Skala. Nicht minder ausdrucks- und seelenvoll Bernada Fink als irregeleiteter, zwischen Verrat, Freundschaft und sexueller Begierde hin- und hergerissener Sextus. Dass dieser dramaturgisch stimmige Ausdruckswille mitunter auf Kosten eines belcantischen Schönklangs geht, zeigt freilich, dass es jenseits aller vermeintlich objektiven Antworten immer auch um Geschmacksfragen geht. Wie viel Kontrast will man als Hörer bei Mozart akzeptieren? Wie viel Brüche möchte man jenseits der schönen Melodien und quecksilbrigen Eleganz hinnehmen? Jacobs zeitgenössische Lesart dürfte Liebhabern eines runderen, weicheren, weniger zerklüfteten Mozart-Klangs wohl weniger behagen.
Aber es gibt ja noch die übrigen Sänger/innen: Nobel und eher zurückhaltend agiert Mark Padmore, der seinen Tito nicht als elder statesman, sondern als jungen, idealistischen Philosophen anlegt. Auf hohem Niveau bewegen sich auch die Nebenfiguren: Mari-Claude Chappuis als Annio und Sunhae Im als Servilia geben ein erfrischendes Liebespaar, Sergio Foresti mimt mit rundem, aber eher leichten Bass die graue Beratereminenz im Hintergrund.
Mit dem Freiburger Barockorchester steht René Jacobs ein Spitzenensemble zur Verfügung. Schon die Ouvertüre stimmt auf das ganze Werk ein: kontrastverstärkte Dynamik, ein kernig-sehniger Klang der Streicher, von denen sich die schlanken Holzbläser deutlich abheben. Leuchtende Farben, klare Linien. Es klingt kräftig, aber nicht dick. Entschieden Nicht-romantisch. Die Akustik ist direkt, in der SACD-Variante ausgesprochen plastisch.
Nicht jedem wird dieser zupackende Zugriff gefallen. Aber hat man Bassetthorn und -klarinette in den Arien der Vitellia und des Sextus schon einmal so gleichberechtigt, als Dialogpartner oder seelisches Echo gehört (wie oft erscheinen sie nur als dekorativer Farbakzent!)? Hat die Ouvertüre einmal so deutlich das nachfolgende Drama vorwegklingen lassen? Und das berühmte Finale des 1. Aktes: Hier gelingt Jacobs wirklich eine überzeugend moderne Deutung. Wo sich sonst eher eine tragische Oratorienstimmung einstellt, entsteht bei Jacobs eine Collage aus musikalischen Schnitten und Gegenschnitten, aus akustischer Nah- und Fernsicht. Es ist wie im Film, nur das sich hier der Schauplatz durch eine präzise Regie der Klangfarbe und Dynamik im Ohr des Hörers verändert.
Sicherlich die spannendste, auch herausforderndste Mozart-Interpreation in diesem Jubeljahr. Im Sommer steht bei Jacobs übrigens der Don Giovanni auf dem Programm, die Aufnahme wird wahrscheinlich im nächsten Frühjahr bei harmonia mundi zu haben sein.
Georg Henkel
Besetzung
Sunhae Im
Sergio Foresti
Mark Padmore
Bernada Fink
Alexandrina Pendatchanska
RIAS Kammerchor
Freiburger Barockorchester
Ltg. René Jacobs
So bewerten wir:
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