Reviews
Zeitreise / Live im Sartory
Info
Musikrichtung:
Deutsch Rock
VÖ: 26.04.2024 (Vertigo / Capitol / Universal) Gesamtspielzeit: 154:53 Internet: http://www.bap.de |
Bei vielen Bands, die eine lange Geschichte haben, stehen die Alben, die als Klassiker gelten, eher am Beginn der Karriere. Wenn sich eine solche Band dann weiterentwickelt, macht das in der Regel nur ein Teil der Fans wirklich mit. Und auch wenn sie der Band bis zu einem gewissen Grad die Treue halten, sind es die Songs von `damals´, die sie hören wollen, die im Konzert aber natürlich nur einen Teil der Setlist darstellen können, will die Band nicht zur Coverband ihrer selbst werden.
BAP sind nicht zur Coverband geworden, sondern haben sich kontinuierlich weiterentwickelt, das Personal mittlerweile komplett ausgetauscht und fungieren seit längerem wieder unter dem Namen Niedecken’s BAP, den sie 1981 nach dem zweiten Album ...affjetaut… abgelegt hatten. Für viele Fans wurden sie genau damals für zwei Studio- und ein Live-Album zu dem, was BAP eigentlich ausmacht. Für diese Fans ist die Zeitreise ein unverhofftes Geschenk.
(Für das die Fans die Kölner mittlerweile bereits belohnt haben. `Zeitreise´ ist nicht einfach nur auf #1 der deutschen Album-Charts geschossen, sondern hat damit gleich noch einen Rekord gebrochen. Mit dem dreizehnten Nummer #1 Album haben BAP die bisherigen Rekordhalter vom Thron gestoßen. Die Beatles haben es “nur“ auf zwölf #1 gebracht; Red.)
Auf drei CDs befinden sich zweieinhalb Stunden Musik. Darunter sind sämtliche Titel der drei (Doppel)-Platin-Alben für usszeschnigge! (1981), vun drinne noh drusse (1982) und dem Live-Album Bess demnähx, das auch fünf Titel enthält, die auf keinem Studio-Album zu finden sind. Lediglich das Dylan-Cover „Su ne Morje macht die Zeitreise nicht mit.
In ihre Frühzeit greifen BAP sechs Mal zurück. Das noch sehr nach Altstadt-Dylan klingende Debüt rockt andere kölsche Leeder (1979) wird zwei Mal bedacht, wobei „Stell dir vüür“ zusammen mit Neil Youngs „Hurricane“ als Medley erscheint. Von ...affjetaut... (1980), das sich für mich – anders als die später folgenden Alben – auf einer Höhe mit den auf der Zeitreise komplett berücksichtigten Alben befindet, gibt es vier Stücke.
Spätere Songs sind überhaupt nicht vertreten. Zu Recht! Die beiden folgenden Alben Zwesche Salzjebäck un Bier (1984) und Ahl Männer, aalglatt (1986) sind zwar noch äußerst stark, aber bereits wesentlich glatter produziert; eine Entwicklung, die sich in den folgenden Jahren so deutlich fortsetzen wird, dass der alte Fan doch einiges an Willen aufbringen musste, um sich die Alben schön zu hören.
In der klassischen Phase standen BAP als Sextett im Studio und auf der Bühne. Davon ist man für Zeitreise abgewichen. Zwei Bläser und eine Streicherin kommen hinzu, die einigen Stücken durchaus positiv etwas hinzugeben. „Et letzte Leed“ erhält durch Anne de Wolffs Cello ein leicht osteuropäisches Flair. Die Bläser versetzen z.B. dem Rock’n’Roll „Häng de Fahn eruss” noch mal einen kräftigen zusätzlichen Energieschub. Auch die Mundharmonika erscheint mehrfach sehr prominent, ohne dass in der Besetzungsliste erwähnt würde, wer sie denn gespielt hat. Teilweise wurde sehr stark umarrangiert; so z.B. der „Müsli-Män”, der nun als Orgel-geschwängerter Reggae über die Bühne geht.
Ich vermute, dass der Konzertmitschnitt deutlich eingekürzt wurde. Allein schon die Tatsache, dass es nur wenige und relativ kurze Ansagen gibt, überrascht bei dem von BAP gewohnten Kommunikationsverhalten. Zur Gewissheit wird die Vermutung, wenn man in dem ausführlichen Booklet liest, dass Niedecken „10. Juni“ mit einer längeren Ansage eingeleitet hat, um diesen aus dem Kalten Krieg stammenden Text angesichts des Ukraine-Kriegs unverändert singen zu können – eine Ansage, die auf der CD nicht enthalten ist.
Eine Kritik ist das nicht. Wenn man entsprechende Ansagen einige Male gehört hat, würden sie beim wiederholten Hören der CD irgendwann nur noch nerven. Eventuell hätte man eine Möglichkeit finden können, sie als Boni auf eine der CDs zu packen.
Vielleicht hat es auch zu „Jupp“ eine kommentierende Ansage gegeben. Denn die Textzeile „Et woot manche Nejer blaß vun dämm, wat unsere Jupp och jeistig alles drop hätt“, die Niedecken ohne jede Änderung vorträgt, dürfte der Hausmeister-Mentalität der viktorianischen Moral „pc“ Majority, die die Stammtische der Alternativ-Kneipen voll im Griff hat, mächtig gegen den Strich gehen. Klasse! Die klare Geisteshaltung, die dahinter steht, hat er schon “damals“ mit „Ens em Vertraue“ deutlich beschrieben.
Sollte es einen Orden für ein gerades Rückgrat geben, sollte man ihn in Köln abliefern. Der (Punkte)-Orden, der unter dieser Review steht, brauch das allerdings nicht. Er steht steil allein nach der Performance von Zeitreise.
Trackliste
1 Koot vüür Aach (5:15)
2 Südstadt, verzäll nix (3:50)
3 Nemm mich met (5:21)
4 Wo mer endlich Sommer hann (2:53)
5 Waschsalon (3:31)
6 Ens em Vertraue (5:10)
7 Nit für Kooche (5:23)
8 Ahn 'ner Leitplank (6:31)
9 Wellenreiter (3:00)
10 Müsli-Män (3:30)
CD 2
11 Zehnter Juni (5:03)
12 Wenn et Bedde sich lohne däät (4:51)
13 Kristallnaach (5:51)
14 Eins für Carmen un en Insel (4:18)
15 Weisste noch? (5:33)
16 Fuhl ahm Strand (6:09)
17 Hundertmohl (5:12)
18 Jupp (6:24)
19 Ne schöne Jrooß (6:52)
20 Verdamp lang her (7:33)
CD 3
21 Frau, ich freu mich (5:55)
22 Do kanns zaubre (6:22)
23 Anna (3:25)
24 Jraaduss (6:37)
25 Wie 'ne Stein (5:58)
26 Hurricane - Stell dir vüür – Medley (5:44)
27 Wahnsinn (3:51)
28 Häng de Fahn eruss (2:55)
29 Et letzte Leed (9:09)
30 Helfe kann Dir keiner (3:32)
Besetzung
Werner Kopal (B)
Michael Nass (Keys)
Anne de Wolff (Geige, Cello, …)
Ulrich Rode (Git)
Sönke Reich (Dr)
Axel Müller (Sax, Git, …)
Johannes Goltz (Posaune)
Benny Brown (Trompete, Flügelhorn)
So bewerten wir:
00 bis 05 | Nicht empfehlenswert |
06 bis 10 | Mit (großen) Einschränkungen empfehlenswert |
11 bis 15 | (Hauptsächlich für Fans) empfehlenswert |
16 bis 18 | Sehr empfehlenswert |
19 bis 20 | Überflieger |