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Sämtliche Werke für Gambe
Info
Musikrichtung:
Barock / Gambe
VÖ: 21.06.2024 (CVS / Naxos / 2 CD / DDD / 2023 / CVS 120) Gesamtspielzeit: 156:67 |
FAMILIENBANDE
In seinem mit O-Tönen gesättigten Beitrag zu dieser Aufnahme präpariert Jonathan Dunford die massiven Familienkonflikte heraus, die die Beziehungen in der Musikersippe der Forquerays bestimmten: Der geniale Gambist und Komponist Antoine Forqueray (1671 bis 1744) war privat ein cholerischer Gewaltmensch, der seine Frau quälte und misshandelte. Und da ihm sein Sprössling zu unsolide war, sorgte er dafür, dass der, wenn man ihn schon nicht so einfach in die Verbannung schicken konnte, doch zumindest im Gefängnis landete.
Diese Behandlung hielt den Sohn, Jean-Baptiste Forqueray (1699-1782), nach dem Tod des Vaters allerdings nicht davon ab, ausgewählte Werke seines Zuchtmeisters im Druck herauszugeben. Wobei mitunter unklar bleibt, was von diesen Stücken original Forqueray Senior und was vielleicht doch Zutaten des Juniors sind: Ein eruptives und aggressives Stück wie „La Forqueray“ könnte also ein sehr ehrliches Selbstporträt des Alten oder vielleicht doch eine realistisch ausfabulierte Affektstudie des Sohnes über den Vater sein …
Komponist war auch der Cousin von Jean-Baptiste, Nicolas-Gilles Forqueray (1703-1761). Er ist auf der Doppel-CD allerdings nur mit zwei kleineren Rondeaus, Bearbeitungen von Vokalstücken, vertreten, denn das Album ist vor allem Vater und Sohn Forqueray gewidmet. Und da dominiert eben jener janusgesichtige Antoine, überliefert und in Druck gegeben durch den Sohn, der freilich auch noch eigene Musik zu Papier brachte. Reizvoll sind auch die einzeln in diversen Sammlungen überlieferten Stücke von Vater und Sohn, da sie im Ton entspannter und sanglicher sind. Der Nachwelt bekannt geblieben ist Antoine Forqueray aber in erster Linie als hochpotenter Erbe (und Rivale) Marin Marais sowie als einer der letzten französischen Gambenmeister aufgrund der fünf posthum im Druck erschienen Suiten.
Die Gambistin Myriam Rignol hat mit einer Reihe junger Musiker:innen – darunter ihr Bruder, der Theorbist Gabriel Rignol – die Werke der Forquerays eingespielt.
In ihrem Kommentar macht sie aus einer ursprünglichen Abneigung gegen die, wie sie fand, protzige und düstere Musik der Suiten von Antoine Forqueray keinen Hehl. Freilich hat sich ihre Distanz, unterstützt durch ihre Freundin und Kollegin Lucile Boulanger, inzwischen in eine intensive positive Beschäftigung und Würdigung gewandelt.
Rignol hat sich die Stücke, deren historische Druckfassung durch ein dräuend dichtes Notenbild einschüchternd wirken kann, nachhaltig zu eigen gemacht. Mit all jenen Extremen, die Antoine Forqueray der Gambe abverlangt, mitunter ohne Rücksicht auf deren Grenzen. Er hat der Gambe sozusagen die Geigentöne beigebracht: rauschend, virtuos und plastisch sollte sie klingen und der italienischen Konkurrentin Paroli bieten – das ist ihm eindrucksvoll gelungen, auch wenn es den Siegeszug der Violine nicht verhinderte.
Antoine Forquerays Suiten bestehen überwiegend aus Charakterstücken und Porträts. Rignol und ihre Mitstreiter:innen gehen nicht den Weg des vordergründigen Spektakels, auch wenn sie durchaus zupackend und ausdrucksschärfend musizieren können. Sie spielen – oder malen – mit sinnlich breitem Bogen bzw. Pinsel. Der Ton ist rund und körperlich, singt mit dunkel mineralischer und erdiger Farbe. Die starken Akzente und akrobatischen Effekte klingen nicht rau und gestresst, wie das schon mal sein kann, wenn die Gambe ins extrovertierte Fach wechselt. Volltönend und sanglich bleibt das Instrument auch hier. Dazu treten Theorbe und Cembalo, in unterschiedlichen Kombinationen, mal im Tutti und auch mal solistisch.
Der Klang hat im Ganzen mehr Gewicht und Dichte als beispielsweise beim grafischer disponierenden Paolo Pandolfo (Glossa), allerdings auch weniger tänzerische Eloquenz als bei Lorenz Duftschmid (Pan Classics) – die neue Aufnahme bewegt sich gewissermaßen dazwischen.
Um diese umfgangreiche Schaffen auf zwei CDs unterzubringen, waren Zugeständnisse bei den Wiederholungen erforderlich, die mitunter entfallen. Dafür bekommt man aber auch die vereinzelt bzw. in Manuskriptform überlieferten Werke von Antoine und Jean-Baptiste zu hören, die einen willkommenen Gegenpol zu den "avancierten" Suiten darstellen. Bei "Le Carillon de Passy" (Suite Nr. 4) werden zudem nicht nur sämtliche Wiederholungen gespielt, das Stück wird überdies mit "La Latour" verbunden, das es dann in einem anschließenden erneuten Durchlauf wie ein Da-Capo einrahmt. Mit seinen auf- und abschwingenden harmonischen Patterns gerät diese Kombination zu einer hypnotischen zehnminütigen Meditation über den Glockenklang.
Fazit: Eine überzeugende Gelegenheit, die faszinierende und oft verrätselte Gambenwelt der Forquerays zu entdecken und den Horizont zu erkunden, vor dem die fünf großen Suiten des Antoine aufragen.
Georg Henkel
Trackliste
Nicolas-Gilles Forqueray: Rondeau "Que je regrette Papillon"; Rondeau Musette "N'espere plus jeune Lisette"
Antoine & Jean-Baptiste-Antoine Forqueray: Suiten für Viola da Gamba & Bc Nr. 1-5
Besetzung
So bewerten wir:
00 bis 05 | Nicht empfehlenswert |
06 bis 10 | Mit (großen) Einschränkungen empfehlenswert |
11 bis 15 | (Hauptsächlich für Fans) empfehlenswert |
16 bis 18 | Sehr empfehlenswert |
19 bis 20 | Überflieger |