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Céphale et Procris
Info
Musikrichtung:
Barock / Oper
VÖ: 16.02.2024 (CVS / Naxos / 2 CDs / DDD / 2023 / CVS 119) Gesamtspielzeit: 147:15 |
ERNEUTE EHRENRETTUNG
Jene Komponisten, die im Schatten Lullys nach dessen Tod weiter Opern komponierten, sahen sich oft unvorteilhafter Vergleiche mit der „Einfachheit“ und „Natürlichkeit“ des Meisters ausgesetzt. Das Publikum wünschte zwar etwas Neues, goutierte zu viele Abweichungen vom Gewohnten freilich nicht. Auch die Libretti gefielen ihm mangels dichterischer Qualität nur noch selten.
So erging es auch der hochbegabten Élisabeth Jacquet de La Guerre, die als erste und einzige Frau im 17. Jahrhundert einen Beitrag zum Genre der französischen lyrischen Tragödie leistete. Der Sonderstatus der von Ludwig XIV. protektierten Künstlerin half wenig, zumal der Sonnenkönig das Interesse an jenem musikalischen Repräsentations-Prunkstück verloren hatte, das er einst wesentlich gefördert hatte. Außerdem kämpfte die Oper mit ihrem Ruf als unmoralische Anstalt: Eine zusätzliche Bürde für eine Frau als Komponistin!
Daher fiel denn auch Jacquet des La Guerres Oper „Céphale et Procris“ 1694 mehr oder weniger durch – trotz ihrer musikalischen Qualitäten und der geflissentlichen Beachtung der ästhetischen Codes, was moderate Neuerungen nicht ausschloss. Die sehr schöne Ouvertüre zum Beispiel erinnert eher an ein Sinfonia italienischen Zuschnitts. Auch Wiedereinführung des von Lully weitgehend verbannten komischen Elements durch die Tändeleien zweier Dienerfiguren scheint eher von der Tradition Monteverdis und Cavallis inspiriert.
Ansonsten ist das Werk so barockfranzösisch, wie es eben sein musste. Das auf den Metamorphosen Ovids fußende, aber nicht sonderlich geschickt montierte und gedichtete Libretto von Joseph-François Duché de Vancy verhandelt die beliebten höfischen Liebeskonflikte in der üblichen antik-mythologisierenden Verpackung.
Die Konventionen haben die Komponistin nicht daran gehindert, hochwertige Musik auf der Höhe der Zeit zu komponieren: lebendige Rezitative, harmonisch reiche orchesterbegleitete Airs, abwechslungsreiche Tänze und dynamische Chöre.
Auch das Element des Fantastischen und Wunderbaren kommt nicht zu kurz. Himmel und Hölle werden in Bewegung gesetzt, wenn es gilt, die tragisch endende Liebe von Céphale und Procris mit Suspense aufzuladen: Belagert vom grausamen König Borée und der ebenso intriganten wie reizbaren Göttin Aurora, fallen die beiden Liebenden von einem Gefühlsextrem ins andere, hadern, zweifeln und versöhnen sich, bis durch einen von Céphale versehentlich abgeschossenen Pfeil die zum Greifen nahe Idylle sich endgültig als Illusion entpuppt. Ihre letzten Worte singt die sterbende Procris in einem mit dramatischen Stille-Momenten durchsetzen Rezitativ, während der erschütterte Céphale sich bereitet, seiner Geliebten in die Unterwelt zu folgen …
Nachdem bereits 2008 die Cembalistin und Dirigentin Daniela Dolci und das Ensemble Musica Fiorita sich dieser Oper in einer sehr ansprechenden Weise angenommen haben (Label des ORF – Edition Alte Musik), folgt nun ein zweiter Aufschlag aus Frankreich: Reinoud van Mechelen hat in der Personalunion von Tenor und Leitung das Werk mit seinem Ensemble „a nocte temporis“ sowie dem Kammerchor von Namur aufgenommen. An der Spitze einer versierten, vokalglänzenden Truppe von Sänger:innen lässt er die Musik sich in vollem, lyrischen Ton entfalten und prägt die Einspielung mit seiner herrlich ausdrucksvollen hohen Stimme.
Die ältere, leicht gekürzte Einspielung wirkt "grafischer": Sie ist kleinteiliger und schlanker disponiert, auch folgt das kammermusikalische Orchester mit Cello und Violone eher italienischen Vorbildern. Die Deklamation ist effektvoll „theatralisch“, die Musik in den Tänzen und Chören filigran, effektvoll „nervös“, manchmal auch etwas mechanisch.
Van Mechelen bietet hingegen eine "malerische" und größer besetzte Version. Er wartet mit einem Instrumentarium auf, dass sich an den Gepflogenheiten im Frankreich des späten 17. Jahrhundert orientiert (Basse de violon statt Celli; kein Kontrabass). Die Akustik ist deutlich halliger, was imposant klingt, aber beispielsweise bei sehr schnellen Tempi wie dem skandierenden Dämonenchor des 4. Aktes zu akustischen Unschärfen führt. Im Ganzen dürfte diese Aufnahme dem typsichen französischen Sound des Barock freilich näher kommen.
Das gilt auch für die Sänger:innen: Mit der anrührend leidenschaftlichen Procris von Deborah Cachet, der pointierten launischen Aurora der Ema Nikolovska und dem markigen Borée von Lisandro Abadie sind die Hauptrollen bei der Neuproduktion ausdrucksstark und (mutter)sprachlich perfekt besetzt – ein Niveaus, dass auch die kleinen, zum Teil Chorsänger:innen anvertrauten Rollen halten. Als Pars pro toto für die Nebenfiguren sei der wieder erstaunlich wandlungsfähige Marc Mauillon genannt, der unter anderen mit schneidendem Timbre die notorische Personifikation der Eifersucht performt.
Man kann nur vermuten, wie es mit Élisabeth Jacquet de La Guerres Karriere als Opernkomponistin weitergegangen wäre, hätte ihr Erstling mehr Erfolg gehabt. Es brauchte viele Jahre, bis sie sich erneut und mit dann rein instrumentalen Werken in der Öffentlichkeit präsentierte. Diese Gesamteinspielung von "Céphale et Procris" zumindest sorgt durch die sorgfältige, quellenkundige Interpretation, die organische dramatische Durchformung und eine schöne Präsentation für eine erneute Ehrenrettung.
Georg Henkel
Besetzung
Choeur de Chambre de Namur
a nocte temporis
Reinoud van Mechelen, Tenor & Leitung
So bewerten wir:
00 bis 05 | Nicht empfehlenswert |
06 bis 10 | Mit (großen) Einschränkungen empfehlenswert |
11 bis 15 | (Hauptsächlich für Fans) empfehlenswert |
16 bis 18 | Sehr empfehlenswert |
19 bis 20 | Überflieger |