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Sakralmusik aus der Kathedrale von Notre Dame
Info
Musikrichtung:
Mittelalter vokal
VÖ: 27.06.2005 Naxos / Naxos CD DDD (AD 2004) / Best. Nr. 8.557340 Gesamtspielzeit: 70:04 |
STRATOSPHÄRISCH
Eine fast schon didaktische Produktion, die gleich mehrere Versionen bzw. Alternativen ein und desselben Stücks präsentiert - was in diesem Fall ein besonderes Lob verdient. Denn bei den hier eingespielten Werken der sogenannten Schule von Notre Dame Paris aus dem späten 12. Jahrhundert mag es sich zwar um die ersten „gültigen“ Großformen abendländischer Musik handeln. Aber um abgeschlossene Kompositionen, die sich einem bestimmten Autor zuweisen lassen, handelt es sich eben noch nicht. Eher um Stücke aus einer Komponistenwerkstatt, modular konzipiert und erweiterungsfähig.
Ob sich hinter den beiden überlieferten Namen, Magister Leoninus und Magister Perotinus, Einzelpersonen oder eine Reihe von namensverwandten Komponisten verbergen, wird man wohl niemals mit letzter Sicherheit klären können. Die erhaltenen Werke zeugen freilich von ingeniöser Schöpferkraft, die derjenigen der Kathedralbaumeister in nichts nachsteht. Leonin legte mit seinen zweistimmigen Choralbearbeitungen, den sogenannten Organa, das Fundament für Perotins vierstimmige Versionen. Über viele Takte gedehnte Choralnoten werden von einem Obersatz tanzender Stimmen umspielt. Es entstehen Patterns, die die zugrunde liegende Melodie und den (bekannten) Text geradezu transzendieren, vergleichbar dem Strukturwerk, das die tragende Architektur der gotischen Kathedrale in ein Ensemble aus Streben, Fialen und Maßwerk verwandelt.
Unter der Leitung von Anthony Pitts singt das Ensemble Tonus Peregrinus die ausgewählten Werke geradezu mit Engelsstimmen, denen es freilich nicht an irdischer Sinnlichkeit mangelt. Im Zentrum stehen zwei Hauptwerke: Viderunt omnes und Sederunt principes, die berühmten Gradualgesänge vor der Evangelienlesung am 1. und 2. Weihnachtstag. Dabei wird die modale Rhythmik, die bei der berühmten Einspielung des Hilliard Ensembles (ECM New Series) so mitreißend pulsierte, bei Tonus Peregrinus stärker in den melodischen Fluss integriert: Es ist weniger so, dass hier Ton-Pixel im choralen Klangraum tanzen. Vielmehr erscheinen sie wie Perlen auf ein farbiges, vielfach gewundenes Klangband gezogen. Die wechselnden Besetzungen mit Oberchor, Unterchor oder vollem Ensemble sorgen für Beleuchtungswechsel, die auch die vermeintlich bekannten Werke immer wieder neu klingen lässt. Der Hall ist bei einem deutlichem Klangbild relativ ausgeprägt (in Notre Dame dämpften seinerzeit Teppiche im Hochchor die Musik kammermusikalisch ab). Es klingt nicht so ekstatisch wie bei den skandierenden Hilliards, dafür (von ein paar unschön verfärbten Vokalen der Soprane abgesehen) stratosphärisch schwebend.
Georg Henkel
Trackliste
02 Gregorianischer Choral: Viderunt omnes 02:22
03-16 Leonin (?): Viderunt omnes 17:35
17-22 Alternative Klauseln für das ‚Dominus’ 04:47
23-29 Perotin: Viderunt omnes 16:01
30 Scolica Enchiriadis: Non nobis Domine 07:10
31 Perotin: Sederunt Principes 13:31
32 Anonymus: Vetus abit littera 02:29
Besetzung
Kathryn Oswald – Alexander L’Estrange (Alt[us])
Richard Eteson – Alexander Hickey – Timothy Watson (Tenor)
Francis Brett (Bass)
Ltg. Anthony Pitts
So bewerten wir:
00 bis 05 | Nicht empfehlenswert |
06 bis 10 | Mit (großen) Einschränkungen empfehlenswert |
11 bis 15 | (Hauptsächlich für Fans) empfehlenswert |
16 bis 18 | Sehr empfehlenswert |
19 bis 20 | Überflieger |