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Scylla et Glaucus
Info
Musikrichtung:
Barock / Oper
VÖ: 06.10.2023 (Glossa / Note 1 / 2 CD / DDD / 2022 / GCD 924015) Gesamtspielzeit: 149:20 |
SÄNGERISCH EINE REFERENZ
Dass es nun die vierte relevante Aufnahme von Jean-Marie Leclairs 1746 uraufgeführter Tragédie lyrique „Scylla et Glaucus“ gibt, ist ein echter Luxus. Nachdem John Eliot Gardiner 1988 eine erste klassisch-elegante und zugleich dramatische Version in maßstäblicher Besetzung herausgebracht hat (Erato), dauerte es bis 2015, bevor eine dunkel timbrierte Fassung unter Sébastien D'Hérin einen ebenfalls überzeugenden Zugang eröffnete (Alpha). 2022 legte Stefan Plewniak seine manieristisch zugespitzte, barocke Interpretation vor (CVS). Beide Versionen konnten allerdings trotz durchaus bemerkenswerter sängerischer und instrumentaler Leistungen Gardiners Vokalset und orchestralem Feinschliff nicht ganz das Wasser reichen.
Nun folgt mit György Vashegyis Einspielung eine Aufnahme mit einer derzeitigen solistischen Topbesetzung, die derjenigen Gardiners durchaus ebenbürtig ist. Das Spiel des Orfeo Orchestra klingt, wohl auch durch die Wahl des Aufnahmeortes mit seiner weichen Akustik, distanzierter und flächiger als das der English Baroque Soloists oder auch von Pelwniaks Il Giardino d'Amore, bietet dafür edles Sfumato und klangliche Opulenz.
Auf Vashegyis Einspielung nimmt man die pastellenen Zwischentöne eines in voller Blüte stehenden Rokoko wahr, wobei die überaus abwechslungsreich ausstaffierte Partitur Leclairs dem Dirigenten ein dankbares Betätigungsfeld bietet, sein Orchester und den Chor glänzen zu lassen: Was die Oper betrifft, ist der Komponist wie sein Kollege Rameau ein Spätberufener und „konservativer Moderner“. Seine Schreibweise ist gediegen und virtuos, dramatisch und verspielt, verschwenderisch und konzentriert, barock und empfindsam. Ganz offenkundig wollte er eine Probe seines Talents ablegen, so reich hat er sein erstes und leider auch einziges Bühnenwerk ausgestattet. Harmonische Kühnheiten, orchestrale Farbspiele und glanzvolle Chöre verbinden sich mit den ausdrucksvollen Monologen und Arien sowie spannungsvollen Rezitativen. Unüberhörbar ist ein italienischer Ton.
Von den Charakteren wird üblicherweise wird zunächst die Figur der Circé genannt, die Leclair musikalisch als komplexen Charakter inklusive wildharmonischer Abgründigkeiten gestaltet hat. In Veronique Gens hat die Zauberin eine bestens disponierte mezzodunkle und sopranglühende Perfomerin, die ebenso verführerisch wie gefährlich und böse klingen kann. Die soeben mit dem Grammophone Award 2023 ausgezeichnete Sängerin hat vor allem in der großen Verwünschungs- und Beschwörungszene des 4. Aktes Gelegenheit, sich mit unheimlichen und giftigen Vokalfarben zu präsentieren.
Aber auch das pastoral-lyrisch gezeichnete Liebespaar Scylla und Glaucus hat durchaus dramatische Seite zu bieten, wie man hier hören kann. Denn auch Judith van Wanroj verfügt über gereifte, passionierte Farben und Cyrille Dubois hat ja mit dem kürzlich erschienenen Album „Jouissons de nos beaux ans!“ unter dem gleichen Dirigenten gezeigt, was für ein famos expressiver und wandlungsfähiger Gestalter er ist. Sein Glaucus dürfte die denkbar beste Interpretation unter den verfügbaren sein. Nach den zärtlichen und leidenschaftlichen Tönen des Beginns gewinnt die Figur, wenn es auf die finale Katastrophe zugeht, ein immer eindrücklicheres tragisches Profil – der erschütternde „Scylla!“-Ruf angesichts der Verwandlung der Geliebten in eine grauenhafte Ungeheuerlichkeit kommt wirklich aus der Tiefe einer gequälten Seele. In den zahlreichen kleineren Rollen glänzen Jehanne Amzal, Hasnaa Bennani und David Witczak, die den unverzichtbaren Vertrauten, bukolischem Begleitpersonal und einigen ober- und unterweltlichen Gestalten einprägsame Stimmen verleihen.
Die Neueinspielung bietet eine gegenüber den Vorgängerinnen etwas gestraffte Version anhand der erhaltenen Aufführungspartitur. Denn das Werk wurde noch während der ersten Vorstellungen überarbeitet, was vor allem Kürzungen der Rezitative und einen Schnitt beim triumphalen Schlussauftritts der Circé mit sich brachte (der hier freilich komplett enthalten ist) – das sorgt für mehr Bündigkeit der nur langsam sich entfaltenden, aber recht überschaubaren Handlung und fokussiert auf den schockierenden Schlusseffekt dieser Oper ohne „Happy End“. Unter anderem dies hat seinerzeit den Erfolg verhindert. Heute hingegen erfreut man sich an Leclairs Originalität und Konsequenz, die hier mit sinnlichem Orchesterspiel in einer sängerisch sehr guten bis ausgezeichneten Interpretation zur Geltung kommt - eine neue Referenz!
Georg Henkel
Besetzung
Purcell Choir
Orfeo Orchestra
György Vashegyi, Leitung
So bewerten wir:
00 bis 05 | Nicht empfehlenswert |
06 bis 10 | Mit (großen) Einschränkungen empfehlenswert |
11 bis 15 | (Hauptsächlich für Fans) empfehlenswert |
16 bis 18 | Sehr empfehlenswert |
19 bis 20 | Überflieger |