Reviews
Benedictus (Grand Motets Vol. 3)
Info
Musikrichtung:
Barock / Geistliche Musik
VÖ: 06.10.2023 (CVS / Note 1 / CD / DDD / 2022 / CVS087) Gesamtspielzeit: 72:40 |
EMPFINDSAMKEIT & FUROR
So, wie Stéphane Fuget mit seinem Ensemble „Les Épopées“ die großen Motetten Lullys in der nunmehr dritten Folge angeht, entwickeln diese einen theatralischen Sog, der genuin barock wirkt, weil er das Delikate mit dem Grandiosen, das Monumentale mit dem Intimen zusammenbringt. Mystik und Ekstase, leidenschaftliches Sehnen und herrischen Furor kann man hier nebeneinander, manchmal gleichzeitig erleben. Manche Tutti-Attacke scheint darauf abzuzielen, die Zuhörenden in die Knie zu zwingen. Mit gefalteten Händen, wohlgemerkt. Im nächsten Moment wieder erhebt sie der Ton innigster Andacht.
Das hat etwas. Die Mittel, die die Musizierenden dafür einsetzen, sind erlesen, manchmal auch gesucht, aber immer im Dienst von Ausdruck und Atmosphäre. Nur eben nicht unbedingt im strengen Sinne notengetreu: Verschiedene Intensitäten von Rubato, Vibrato und Tremolo formen nicht nur melodische Phrasen, sondern ebenso einzelne Töne charakteristisch aus. Die Kontrapunkte tendieren durch asynchrone Verzierungen und intonatorische Schärfungen zur Klangfarbenmusik. Instrumentale und vokale Soli können sich innerhalb der von der Partitur gesteckten Grenzen ungezwungen als mal empfindsame, mal pathetische Ausdrucksmusik entfalten, wirken manchmal wie über die zu singenden Worte improvisiert.
Ich gestehe, dass mich nach dem fulminanten Start dieser Edition der zweite Teil nicht so ganz überzeugt hat, weil mir hier des Guten zu viel getan schien: Alles wirkte zu aufgeregt, die Architektur der Musik drohte vor lauter Ausdrucks- und Klang-Differenzierungen undeutlich zu werden. Und wer, wenn nicht Lully, war schließlich einer der größten Musik-Architekten seiner Zeit? Und für seine Disziplin und Rigidität gefürchtet. Hätte er seinen Interpreten also so viele Freiheiten zugestanden?
Nun, vielleicht hätte ihn Fuget mit seinem Ergebnis schlicht von der Richtigkeit seines Ansatzes überzeugt. Denn im 3. Teil nun scheinen Mittel und Wirkungen wieder im Lot: Gleich das eröffnende „Plaudi laetare Gallia“ elektrisiert mit seinem hymnisch bewegten Eingangschor, der in einige meditativere Abschnitte mündet, die sehr einfühlsam dargeboten werden.
Fuget verfügt über ein groß besetztes Orchester mit starker Bassstimme. Vollstimmig ist auch der Chor, aus dem auch die überwiegend sehr guten Solisten kommen (lediglich einer der hohen Tenöre wirkt etwas überfordert, z. B. im dritten Satz des „Benedictus“ („Salutem ex inimicis nostris“)‘; ausdrücklich gelobt werden darf hingegen wieder Marc Mauillon, der sich den Ansatz Fugets besonders überzeugend zu eigen gemacht hat und mehreren Soli mit seinem unverwechselbaren Timbre den Stempel aufdrückt).
Auch der Opernkomponist Lully macht sich bemerkbar: In der Motette „Notus in Judaea Deus“ gibt es eine regelrechte Schlummerszene („Dormierunt somnum suum“), wobei flötenselige Abschnitte wirkungsvoll mit Momenten des furchtbaren Gottesschrecken kontrastieren. Die großräumige Akustik des Versailler Hofkirche wird geschickt genutzt und die Flöten als leuchtender „Fernchor“ eingesetzt: ein himmlisches Elysium, gegenüber dem die Momente von Zittern und Furcht sich um so eindrücklicher abheben.
Ein „Magnificat“ von Henry Dumont gönnt auch Lullys Vorgänger einen nachdrücklichen Auftritt, wobei vor allem deutlich wird, wie die ältere Generation sich an der neuen Monumentalität orientierte. Die instrumentale Eröffnung ist ein gutes Beispiel für das Grenzgängerische dieser Interpretation: Ist das eine ausgezierte Kadenz oder ein embryonales Präludium? Was ist notiert, was improvisiert? Die MusikerInnen scheinen die Musik extempore entstehen zu lassen, ein Eindruck, der sich mehrfach wiederholt, aber stets stimmig wirkt, wie z. B. das „Vorspiel“ zum „Misericordia“, das in den leidenschaftlich sich windenden Gesangslinien der Sänger seine Fortsetzung findet. Nach so viel Sensitivität frappiert das lebhafte „Fecit potentiam in brachio suo“ mit seinem pikanten Orchester-Portamenti – ist das, ebenso wie manche „Schleifer“ im Vokalen, vom Komponisten notiert?
Es gibt hier in jedem Abschnitt etwas zu entdecken, diese Interpretation ist nicht so schnell ausgehört und macht erneut Lust auf mehr.
Georg Henkel
Trackliste
Henri Dumont: Magnificat
Besetzung
Stéphane Fuget, Leitung
So bewerten wir:
00 bis 05 | Nicht empfehlenswert |
06 bis 10 | Mit (großen) Einschränkungen empfehlenswert |
11 bis 15 | (Hauptsächlich für Fans) empfehlenswert |
16 bis 18 | Sehr empfehlenswert |
19 bis 20 | Überflieger |