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Circé
Info
Musikrichtung:
Barock / Oper
VÖ: 30.05.2023 (CPO / JPC / 3 CD / DDD / 2023 / CPO 555 594-2) Gesamtspielzeit: 199:05 |
BAROCKE ZAUBERINSEL
Die franzsösische Barockoper hat aktuell einen Lauf, wie man so schön sagt. Neben den großen Namen Lully & Rameau finden sich immer mehr Raritäten. So auch Henry Desmarests Opter "Circé", die 1694 in Paris aufgeführt wurde. Kurz nach der ersten Gesamteinspielung folgt gleich eine weitere Produktion des Werks. Während die CD-Premiere in den Händen des französischen Labels CVS und dem Ensemble "Les Surprises" unter der Leitung von Sebastien d'Herin lag (zur Rezension), ist es nun das deutsche Label CPO mit den Ensembles des renommierten Boston Early Music Festivals, das sich der Geschichte um die antike Zauberin Kirke annimmt. Die wurde von der Librettistin Louise-Geneviève Gillot de Saintonge in Verse gegossen und sieht nicht weniger als 18 solistische Rollen vor, dazu Chor und Orchester. Der Plot ist voll von jenen amourösen Verwicklungen und mythologischen Fantasy-Elementen, die für die französische Barockoper so typisch sind. Entsprechend bunt erweist sich die Mischung aus Rezitativen, Arien, Tanz- und sonstiger "malerischer" Instrumentalmusik.
Der Vergleich der beiden Interpretationen ist aufschlussreich und repräsentiert die aktuellen Trends bei der Wiederbelebung dieses Repertoires. Zunächst fällt da die sehr unterschiedliche Gesamtdauer auf: Die CPO-Produktion währt 200 Minuten, die CVS rund 155 Minuten. Das hat seinen Grund zum einen darin, dass sämtliche Reprisen der Ouvertüre und Tänze sowie die Zwischenaktmusiken – meist handelt es sich dabei Wiederholungen eines schon vorher erklungenen Tanzes – bei Neueinspielung mit aufgenommen wurden. Zum anderen ist der deklamatorische Puls insgesamt langsamer, was sich mit der Zeit summiert. Während die Versailler Aufnahme sich beim Grundtempo am Timing des Sprechtheaters orientiert und dadurch einen vorwärtsdrängenden dramatischen Puls hat, "singt" die Bostoner mehr und exponiert einzelne Auftritte erkennbarer als individuelle „Nummern“.
Die Traumszene im dritten Akt ist charakteristisch für den unterschiedlichen Angang. Leider klingt das an sich sehr schöne Vokalterzett aus drei Männerstimmen, das Desmarest hier vorgesehen hat, in der CPO-Produktion nicht ganz so rund und harmonisch timbriert wie bei der CVS-Produktion, das die Musik zum Schweben bringt. Die bevorzugt auch insgesamt einen weicheren, geschmeidigeren Klang. Dafür bleiben hier dann nach dem feinsinnigen Beginn die Auftritte der „finsteren Träume“ eher blass, sie haben in der neueren Produktion deutlich mehr Biss. Das dürfte auch am reichen Continuo-Instrumentarium liegen, das hier wie überall in der Oper flexibel zum Einsatz kommt.
Insgesamt verweilt die CPO-Fassung länger in den vom Komponisten attraktiv ausgestatteten Divertissements und rundet die Akte durch die besagten Zwischenspiele ab. Das ist nicht unpassend für eine Oper, die das zauberische Element und die Verführungskünste der Hauptfigur ins Zentrum stellt. Die Phrasierung der CPO-Produktion vor allen in der liedhaften Airs wirkt manchmal etwas behäbiger – hingegen tendiert die CVS-Einspielung dazu, den Kontrast zwischen Rezitativ zum Air und umgekehrt zu nivellieren. Da freut man sich doch an den vielen expressiven Wendungen und Zuspitzungen der Alternativversion von CPO, die im Hinblick auf die "Klangrede" im Detail doch um einiges reicher ausgestaltet und insgesamt noch farbiger geraten ist.
Was die Hauptrollen angeht hat man die Wahl zwischen der Kirke der Veronique Gens (CVS) und von Lucile Richardot (CPO). Gens zeichnet ihren Charakter aristokratisch, mit nuancierter, reifer Stimme als starke, aber auch leidenschaftliche Frau. Demgegenüber ist der ebenfalls farbenreiche Mezzosopran von Lucile Richardot schlanker. Ihre Kirke klingt aufgrund der faszinierend tiefen Kontraltofärbung opaker und androgyner, ist gleichwohl zu flammenden Ausbrüchen fähig. In der Zauber-Szene des 4. Aktes hört man eine archaische Wildheit, die ans Pathologische rührt. In der finalen Szene fegt die Sängerin mit vokalem Rasen buchstäblich alle übrigen von der Bühne, bevor sie ohne Rücksicht auf „Wohlklang“ den Abgang ihrer Figur eindrucksvoll inszeniert, in einer Mischung aus Hass, Wut und Verzweiflung über den untreuen Odysseus.
Als Odysseus bekommt man in beiden Aufnahmen ein nicht weniger kontrastierendes Paar: Mathias Vidal singt in der ersten Aufnahme mit seinem charakteristischen expressiv-vibrierenden Ton, während der geradliniger intonierende Aaron Sheeham im Vergleich neutraler wirkt – er hat Richardots Kirke keine vergleichbare Emphase und Nuanciertheit entgegenzusetzen und man fragt sich schließlich, was sie an diesem Helden findet. Sheehams Odysseus harmoniert dafür gut mit der Aeolia von Amanda Forsythe, die herber klingt als Cécile Achille auf der Vergleichseinspielung.
Überzeugender als der buffonesk klingende Nicolas Courjal (CVS) ist Jesse Blumberg (CPO) als tragischer Elphenor. Freilich zeigt sich gerade in seiner Sterbeszene auch noch mal exemplarisch das unterschiedliche Verständnis der Interpreten: In der CPO-Einspielung folgt tatsächlich eine Gigue auf den Tod der Figur (die hier freilich nicht ausgelassen, sondern recht dezent dargeboten wird).
Die CVS-Interpretation verzichtet darauf, um den dramatischen Moment nicht durch zu viel Musik zu überspielen. Ob man die im barocken Sinne breiter ausgemalte Bostoner oder eine eher an dramatischer Bündigkeit orientierte Versailler Interpretation bevorzugt, ist sicherlich auch eine Frage des Geschmacks. Desmarest schüttet ein ziemliches Füllhorn an Einfällen aus, ohne sich zu weit von Lullys Modell zu entfernen.
Klanglich ist die CVS-Produktion, die in der Oper des Versailler Schlosses aufgenommen wurde, ausgewogen, Stimmen und Instrumente befinden auf einer Ebene. Die im Sendesaal von Radio Bremen aufgezeichnete CPO-Einspielung hingegen platziert das Instrumentarium vorne und dahinter dann die Stimmen, was eher die Situation einer Bühnenaufführung evoziert.
Beide Versionen haben also ihre Eigenarten und Qualitäten. Vielleicht macht es einem die Erstaufnahme aufgrund des höheren dramatischen Tempos zunächst leichter, eine reine Hörfassung zu verfolgen, während die neue Interpretation dafür das barocke Märchenspiel mit seinen vielen musikalischen Reizen und zauberischen Effekten in den Vordergrund stellt. Wenn Kirke ihre Insel am Ende unter Entfesselung von Donner, Blitz und Sturm zerstört und in den Meerestiefen versenkt, ist man fast traurig, dass das Spektakel nun doch an ein Ende gekommen ist.
Das Booklet dokumentiert das Werk & die Ausführenden umfassend mit kundigen Beiträgen und bietet ein dreisprachiges Libretto.
Georg Henkel
Besetzung
Boston Early Music Festival Orchestra and Chorus
Paul O'Dette, Stephen Stubbs & Robert Mealy, Leitung
So bewerten wir:
00 bis 05 | Nicht empfehlenswert |
06 bis 10 | Mit (großen) Einschränkungen empfehlenswert |
11 bis 15 | (Hauptsächlich für Fans) empfehlenswert |
16 bis 18 | Sehr empfehlenswert |
19 bis 20 | Überflieger |