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Theodora
Info
Musikrichtung:
Barock / Oratorium
VÖ: 19.05.2023 (Opus Arte / Naxos / DVD / 2022 / OA1368D u. OABD73130) Gesamtspielzeit: 189:00 |
KRITISCHE AMBIVALENZ
Das Martyrium findet nicht statt. Zumindest nicht in der Theodora-Inszenierung von Katie Mitchell und ihrem Team im Opernhaus von Covent Garden. Dort nämlich sterben die keusche Christin Theodora und ihr römischer Gefährte Dydimus für ihre Glaubenstreue nicht den Tod auf dem Scheiterhaufen (wie es die fromme Überlieferung will). Sondern sie werden vorher mit Gewalt von den anderen Christinnen und Christen aus den Händen des römischen Statthalters Valens befreit – das Stück endet 2022 auf der Bühne in einem Blutbad, bei dem die Opfer ihrerseits zu Tätern werden.
Die Opernfassung macht es möglich: Die Bilder und Aktionen erzählen eine andere Geschichte, als das ursprüngliche Oratorium von Georg Friedrich Händel bzw. seines Librettisten Thomas Morrell aus dem Jahr 1750. Denn die kennen nur mehr oder weniger brutale Römer und treue Christen. Während die Christen sich betend zu ihrem Glauben bekennen, ihre seelische und körperliche Reinheit über alles stellen und bereit sind, dafür zu sterben, huldigen die Römer ihren Götzen und Leidenschaften. Letztere finden im triebgesteuerten Statthalter Valens ihre (musikalisch durchaus attraktive) Verkörperung, während die geistliche Führerin der Christen, Irene, und die keusche Jungfrau Theodora mit ihren Leuten von Händel mit einigen seiner ergreifendsten Chöre und sublimsten Arien ausgestattet wurden.
Diese Schwarz-Weiß-Zeichnung, bei der das Christliche zu einem puritanischen Reinheitskult mutiert ist, in dem die Jungfräulichkeit mehr zählt als das Leben, hat schon Händels Zeitgenossen offenbar nicht mehr überzeugt – das Werk wurde ein Flop. Tatsächlich ist Morrells moralinsaures Libretto nur durch Händels Musik überlebensfähig. Die freilich gehört mit zum Bewegendsten, was der Komponist – wie so oft so auch hier unter Verwendung von Material aus fremder Feder – geschaffen hat.
Katie Mitchell löst sich konsequent von der Vorlage. Sie vermag offenbar gar nicht mehr zu glauben, was Morrell bzw. Händel an Idealen beschwören. Da stehen inzwischen auch 2000 Jahre macht- und gewaltvolle Christentumsgeschichte davor. Für Mitchell ist das Christentum wie jede andere Religion eine höchst ambivalente Sache, in der fromme Ergebung, und gewaltbereiter Fanatismus nahe beieinander liegen.
Und so basteln die Christen in Mitchells Inszenierung eine Bombe, um die Verfolger und Unterdrücker zu vernichten. Als Theodora deswegen verhaftet und verurteilt wird, als Prostituierte den Römern zu Diensten zu sein, wird der zu ihrer Rettung bereite Didymus bei Mitchell von ihren Freunden zuerst mit einem Revolver ausgerüstet und dann getauft. Zwar gelingt die Befreiung am Ende durch Überredung und Kleidertausch, doch die Vergewaltigung Theodoras ist bereits vorher geschehen (nicht bei Händel/Morell, sondern in Mitchells insbesondere hier noch einmal besonders intensiver Inszenierung). Schließlich setzt auch Theodora alles daran, um ihren Befreier zu retten und tritt erneut Valens gegenüber: auch sie bewaffnet, aber – zumindest in diesem Augenblick – noch nicht zum Äußersten bereit. So werden am Ende beide von ihm zum Tode verurteilt.
In Mitchells Inszenierung ist dafür kein Scheiterhaufen, sondern ein Kühlraum vorgesehen. Er befindet sich wie die anderen Schauplätze in einem zeitlos-modernen Repräsentationsbau, in der der potente Valens im Festsaal seine Leute auf Rom-Treue einschwört und ansonsten ungeniert seinen Lastern frönt. In der Küche präparieren die christlichen Angestellten derweil zu herzergreifend innigen Arien den Sprengsatz. Später erscheint links ein Nachtclub mit Tabledance und Riesenbett dazu – das Bordell, in das Theodora gezwungen wird – in Bild, und am Ende rechts von der Küche besagter Kühlraum, wo Theodora und Didymus den Kältetod sterben sollen. Diese Konstruktion wird im Tempo der Musik passend zur Szene hin und her geschoben und geradezu (auch in der Bildregie des Mitschnitts) filmreif und von hervorragenden Sänger-Darsteller/innen belebt: „Theodora“ als Politthriller mit religiösem Subtext.
Vielleicht können die Figuren unter diesen Umständen auch gar nicht anders handeln, als sie eben handeln. Händels Musik markierte dann eher einen inneren Zufluchtsort, eine menschliche und spirituelle Utopie in der Dystopie, deren Vision durch Morrells Text aber ganz aufs Jenseits ausgerichtet ist und daher im Diesseits wirkungslos bleiben muss.
Freilich wir der Spagat zwischen Inszenierung und Musik am Ende so groß, dass man sich entscheiden muss, ob man Händel (bzw. Morrell) oder Mitchell Glauben schenken möchte. Die Regisseurin ist da am Ende nicht weniger einseitig wie die Autoren des 18. Jahrhunderts. Hätten zumindest Theodora und Didymus im Angesicht des Todes nicht eine Chance für eine Entwicklung, um dann der Gewaltspirale zu entsagen? Sie greifen nach ihrer Befreiung aber ihrerseits zur Waffe. Theodora erschießt Valens. Sie und Didymus schreiten danach mit erhobenen Waffen aus der Szene heraus, als christlich verbrämte Racheengel. Es braucht wenig Fantasie, sich ihre Zukunft vorzustellen.
Abgesehen von den durchaus produktiven Fragen, die die Inszenierung aufwirft: Das Ganze funktioniert nicht zuletzt wegen der vorzüglichen Besetzung. Herausragend ist hier Joyce DiDonato als Irene – stimmlich wie zuletzt bei der Erato-Produktion unter Maxim Emelyanychev ungemein differenziert. Sie gestaltet den starken, aber in ihren Handlungen auch widersprüchlichen Charakter der Gemeindeführerin eindrucksvoll, dabei nie denunziatorisch.
Wie man auch sonst durchaus mit den Hauptfiguren mitfühlt: Vor allem mit der Theodora von Julia Bullock, die das Verletzlich-Anrührende wie auch die unheimliche Stärke ihrer Figur stimmlich wie darstellerisch bewegend herausarbeitet. Bullock verfügt über die Gabe, mit der Stimme zu klagen, zu weinen oder aufzubegehren, ohne je ins Larmoyante abzudriften.
Dagegen wirkt der Didymus von Jakub Józef Orliński eindimensionaler: seine reine Countertenor-Stimme verfügt nur über recht wenige Farben und klingt vor allem zu Beginn etwas glanzlos. Sein Spiel freilich ist ebenfalls beeindruckend, wie auch das der übrigen Herren: Ed Lyon, der den zwischen Gehorsam und Menschlichkeit hin- und her gerissenen Septimius mit kerniger und passionierter Tenorstimme gibt, liegen die belkantischen Koloraturen zwar nicht wirklich, aber den inneren Konflikt nimmt man ihm ab. Durch den dunklen und kraftvollen ungarischen Bariton Gyula Orendt wirkt der brutale Valens anziehend und gefährlich zugleich.
Barockexperte Harry Bicket leitet eine stilsichere, gestisch und rhetorisch ausgefeilte Fassung mit dem reflexschnellen und historisch informiert musizierenden Orchester der Covent-Garden-Oper. Die Musiker schenken Händels Musik in jedem Moment eine große Dringlichkeit und innere Wahrheit. Auch der Chor, dessen Part etwas gekürzt wurde, ist auf der Höhe des Musizierens. Er realisiert wie die Solisten Händels oft wahrhaft himmlische Musik, deren unerschütterlich humane und spirituelle Aussage in stärkster, aber immer wieder herausfordernder Spannung zur Inszenierung steht.
Georg Henkel
Besetzung
Orchestra of the Royal Opera House Covent Garden
Harry Bicket, Leitung
So bewerten wir:
00 bis 05 | Nicht empfehlenswert |
06 bis 10 | Mit (großen) Einschränkungen empfehlenswert |
11 bis 15 | (Hauptsächlich für Fans) empfehlenswert |
16 bis 18 | Sehr empfehlenswert |
19 bis 20 | Überflieger |