Reviews
Imaginations From The Other Side Live
Info
Musikrichtung:
Melodic Speed Metal
VÖ: 11.12.2020 (Nuclear Blast) Gesamtspielzeit: 54:03 Internet: http://www.blind-guardian.com |
Anno 2016 entschlossen sich Blind Guardian, das 20jährige Jubiläum ihres Klassikers Imaginations From The Other Side zu feiern, indem sie ihn auf einer US-Tour komplett spielten, und da das auf enorm gute Resonanz stieß, kamen bis Sommer 2017 auch noch etliche europäische Länder in den Genuß solcher spezieller Gigs, entweder auf Festivals oder in regulären Hallen-Einzelgigs. Der Rezensent war am 26.08.2017 Augen- und Ohrenzeuge des letzten Konzerts dieser Konstellation, das in Dresden stattfand, und kann den interessierten Leser bezüglich der Detaileindrücke und seiner eigenen Geschichte mit diesem Album auf das zugehörige Livereview verweisen.
Jahre später kommt nun ein Mitschnitt dieser Tour auch auf Tonträger heraus. Das Cover mit dem ausgeschnittenen zentralen Objekt des Originalcovers auf weißem Hintergrund sowie der Fakt, dass es mit dem Bild hinter dem Cleartray überhaupt keinen sinnvollen Zusammenklang ergibt, lassen erstmal einen Bootleg vermuten, aber es handelt sich tatsächlich um einen offiziellen Release, wie im Inneren schnell deutlich wird, denn da finden sich ausführliche Liner Notes von Mark Frostenäs über die Entstehungsgeschichte des Albums sowie Abbildungen u.a. des Originalkunstwerkes von Andreas Marschall mit eingefügtem Albumtitel, aber ohne Bandlogo. Der Mitschnitt stammt vom 3.12.2016 aus der Turbinenhalle in Oberhausen, wo Blind Guardian im Rahmen des Ruhrpott Metal Meetings spielten, und er enthält nicht den kompletten dortigen Gig, sondern tatsächlich nur die neun Imaginations-Songs plus ein den Titeltrack einleitendes, mit Motiven aus den Songs spielendes Intro, wobei auch schon bei dieser Aufführung die Originalreihenfolge eingehalten wurde und auch keine Umarrangements stattfanden, der diesbezügliche Dresden-Eindruck also Bestätigung findet.
Über die Songs noch Lobeshymnen anzustimmen käme dem sprichwörtlichen Export von Bier nach Bayern gleich – an dieser Stelle soll die Einschätzung genügen, dass Blind Guardian mit ihrem Fünftling auf dem Zenit angekommen waren, und das aus zwei Gründen. Zum einen treffen alle neun Songs ins Schwarze (der Unterschied zu Somewhere Far Beyond, wo etwa das eher mißglückte Kunstlied-Experiment „Black Chamber“ oder der unauffällige zweite „Bard’s Song“ das Niveau der auch dort schon zahlreich vertretenen Highlights nicht halten konnten), zum anderen überschreitet die Band hier noch nicht zwei bestimmte Grenzen, was sie auf den Folgealben unvorteilhaft tat: Der Sound kommt glasklar und druckvoll (der Unterschied zum im Spuren-Overkill oftmals die Orientierung verlierenden Nightfall In Middle-Earth), und alle neun Songs besitzen hochgradige Individualität (der Unterschied zu A Night At The Opera, wo die Austauschbarkeit vieler Passagen bedenkliche Züge angenommen hatte). Da wie erwähnt die Grundstrukturen der Songs live nicht angetastet wurden, ändert sich an besagter Individualität nichts.
Unglücklicherweise bestätigen sich indes auch zwei weitere Aspekte, die in Dresden auftraten, in der Livesituation aber eine etwas geringere Bedeutung besaßen als in der Konzertkonserve. Zum einen ist Marcus Siepens Rhythmusgitarre arg weit in den Hintergrund gemischt, was man beispielsweise im Intro von „Born In A Mourning Hall“ archetypisch hört. Solange beide Gitarristen parallel spielen, kommt die angepeilte Komplexpower perfekt rüber – sobald André Olbrich die Leadpassage zu spielen beginnt, hört man von der strukturgebenden Rhythmusgitarre nur noch relativ wenig. Das ist schade, weil es vielen Passagen etwas an Wirkung raubt. Zum anderen bekommt man auch deutlich stärker den Alterungsprozeß von Hansi Kürschs Stimme mit, also die Stellen, die er entweder von vornherein tiefer legen muß oder wo er extrem pressen muß, um gewisse Höhen noch zu erreichen. Das ist in der Konzerthalle zwar auch nicht schön anzuhören, aber da stehen ja 1000 Leute neben einem und helfen dem Sänger tatkräftig. Die Anwesenden in der Turbinenhalle hört man gelegentlich auch tatsächlich mitsingen, aber natürlich viel weiter in den Hintergrund gemischt als der Leadsänger, und 1000 Leute, die man einladen könnte, um dem Sänger tatkräftig zu helfen, passen zumindest nicht in das Zimmer, in dem der Rezensent gerade sitzt, die CD hört und das Review schreibt. Zwar vollbringt der Vokalist, wenn man ihn mit diversen Altersgenossen vergleicht, immer noch eine starke Leistung, aber die jugendliche Frische von 1995 ist eben nicht mehr da. Hier haben wir auch einen markanten Unterschied zum Dresden-Gig: Dort war die Leadstimme überraschend weit in den Hintergrund gemischt worden – auf der Oberhausen-Konserve dagegen steht sie im akustischen Mittelpunkt und bekommt gerade dadurch noch einmal verstärkte Aufmerksamkeit auch für die diesbezüglichen Schwierigkeiten.
Hinzu tritt ein weiteres Problem: Derjenige, der die Aufnahmen geschnitten hat, hat auch nahezu die komplette Publikumskommunikation Kürschs rausgeschnitten, und was er dringelassen hat, animiert eher zum Gähnen, etwa die viermalige Wiederholung des Songtitels „Agony Is The Script For My Requiem“ samt der nicht enthusiastischer werdenden Versuche des Publikums, diesen zu komplettieren. Sowas wie Enthusiasmus, in diesem Falle seitens Kürschs, kommt erst sehr spät: der konkrete Dank an Oberhausen nach „Born In A Mourning Hall“, das simple, aber herzliche „Vielen Dank!“ nach „Bright Eyes“ – und dann sind tatsächlich ein paar Sekunden von „Guardian, Guardian!“-Sprechchören erhalten geblieben, von denen – da würde der Rezensent eine Wette drauf abschließen, wenn er nicht grundsätzlich nicht wetten würde – es garantiert noch deutlich mehr gegeben hat als die kurzen hier und die etwas länger andauernden nach „And The Story Ends“. In der vorliegenden Form entsteht hingegen der Eindruck einer Pflichtübung, kompetent gespielt zwar, aber die Freude, die man auf einem Blind-Guardian-Gig empfinden kann (und mit diesem Songmaterial noch dazu), nur ungenügend transportiert. Mehr als ein kleines Souvenir für Dabeigewesene ist diese CD also eher nicht. Wer die Songs an sich noch nicht kennt, ist mit dem Studioalbum deutlich besser beraten, und wer sich ins konservierte Liveschaffen der Krefelder vorarbeiten will, fange am besten ganz vorn mit Tokyo Tales an.
Roland Ludwig
Trackliste
1 | Imaginations From The Other Side | 8:26 |
2 | I’m Alive | 5:40 |
3 | A Past And Future Secret | 4:13 |
4 | The Script For My Requiem | 6:32 |
5 | Mordred’s Song | 5:20 |
6 | Born In A Mourning Hall | 5:37 |
7 | Bright Eyes | 5:41 |
8 | Another Holy War | 5:02 |
9 | And The Story Ends | 7:18 |
Besetzung
André Olbrich (Git)
Marcus Siepen (Git)
Peter Schüren (Keys)
Barend Courbois (B)
Frederik Ehmke (Dr)
So bewerten wir:
00 bis 05 | Nicht empfehlenswert |
06 bis 10 | Mit (großen) Einschränkungen empfehlenswert |
11 bis 15 | (Hauptsächlich für Fans) empfehlenswert |
16 bis 18 | Sehr empfehlenswert |
19 bis 20 | Überflieger |