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Violinkonzerte
Info
Musikrichtung:
Spätromantik / Moderne
VÖ: 05.05.2023 (Alpha / Outhere / Note 1 / CD / 2022 / Artikelnr. ALPHA 946) Gesamtspielzeit: 73:00 Internet: Kerson Leong |
ÜBERNATÜRLICH
Es ist eine fast übernatürliche Präzision in der Tongebung des jungen kanadischen Geigers Kerson Leong und zugleich ein derart intensives Verschmelzen von Interpret und Instrument, dass man sich fragen kann, ob Leong noch Violine spielt oder schon Violine ist. Erlebbar wird dies in einem der bekanntesten Violinkonzerte überhaupt, nämlich jenem von Max Bruch (1838-1920). Es wird oft als in einer Reihe stehend mit den großen deutschen Konzerten der Romantik (Mendelssohn, Schumann, Brahms) verstanden. Und das ist bei einem Spätromantiker wie Bruch auch nicht abwegig. Leong und mit ihm Patrick Hahn, ebenfalls ein aufgehender Stern am Dirigentenhimmel, betonen stattdessen aber das rhythmische Element und - im Finalsatz - die folkloristischen Wurzeln des Werkes. Entsprechend wird der Violinpart mit feinem Strich gezeichnet und die Interaktion zwischen Solo-Instrument und Orchester ohne Virtuosenmätzchen punktgenau zelebriert. Dem Sanglichen wird im Adagio gleichwohl hinlänglich Tribut gezollt und Leong zeigt, wie man diese 9 Minuten lukullisch auskostet, ohne ins Schwelgerische oder Seichte zu verfallen.
Bruchs Evergreen ausgerechnet mit dem Violinkonzert von Benjamin Britten (1913-1976) zu koppeln, ist kühn: Wo Bruch uns mit tröstendem Wohklang gegenübertritt, da zeichnet Britten - dem Entstehungsjahr 1939 geschuldet - musikalisch Unruhe, Chaos und nicht selten auch schroffe Verbitterung. Die Klangwelten Schostakowitschs sind nicht fern, die Effekte zum Teil grell und die Linien oft kataraktartig oder unterbrochen. Leong beschönigt all dies nicht, sondern arbeitet die Kontraste, die Suchbewegungen und auch das gleißend Auffahrende schonungslos klar heraus. Erstaunlicherweise überstrahlt sein Ton trotz aller Brillanz selbst hier nie, sondern bleibt kraftvoll-klar ohne schneidend zu werden. Dabei erscheint er wie ansatzlos aus dem Nichts zu entstehen. So vollzieht sich der rasche Wechsel von melodischem Spiel zum geräuschhaftem Klang, von der glatten Linie zum Mechanisch-Schroffen wie selbstveständlich. Besonders wohltuend: Leongs Vortrag ist von größer Intensität, bezieht diese aber nicht aus Druckstärke - endlich einmal kann man damit Brittens facettenreiches Konzert genießen, ohne das Ohr "gesandstrahlt" zu bekommen. Das Philharmonic Orchestra ist Leong ein farbenreicher und präziser Partner; Patrick Hahn ist sich nicht zu fein, mit ihm auch die dunkelsten Winkel der Britten´schen Orchester-Geisterbahn konsequent atmosphärisch auszureizen, wobei ihm zusätzlich die exzellente Aufnahmetechnik zugute kommt.
Dass Leong die Brücke zwischen beiden Stücken mit Bruchs instrumentalem Klagegesang "In Memoriam" schlägt, überrascht zunächst, hat die Komposition bei aller Schönheit doch auch einen guten Schuss Sentimentalität. Dennoch oder gerade deshalb gelingt es dem Interpreten, den Hörer so von Brittens Abgründen zu Bruchs Versöhnlichkeit hinzuleiten.
Sven Kerkhoff
Trackliste
M. Bruch: In Memoriam, op. 65; Violinkonzert Nr. 1 g-moll, op. 26
Besetzung
Philharmonic Orchestra
Patrick Hahn: Ltg.
So bewerten wir:
00 bis 05 | Nicht empfehlenswert |
06 bis 10 | Mit (großen) Einschränkungen empfehlenswert |
11 bis 15 | (Hauptsächlich für Fans) empfehlenswert |
16 bis 18 | Sehr empfehlenswert |
19 bis 20 | Überflieger |