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Polydore
Info
Musikrichtung:
Barock / Oper
VÖ: 11.04.2023 (Glossa / Note 1 / 3 CD / DDD / 2022 / GCD 924014) Gesamtspielzeit: 157:52 |
BELKANTISCHE DEKLAMATION
Großen Anteil an der Wiedererschließung der französischen Barockoper nach Lully und vor Rameau hat in jüngerer Zeit unter anderen der ungarische Dirigent György Vashegyi mit seinen beiden Ensembles, dem Purcell Chor und dem Orfeo Orchester. Ihre wachsende Diskographie umfasst Werke von bedeutenden Rameau-Vorgängern wie Michel Pignolet de Monteclair („Jephté“), Charles Hubert Gervais („Hypermnestre“) und jetzt auch von Jean-Baptiste Stuck, dessen „Polydore“ von 1720 erstmals komplett auf CD erscheint. Sie zeichnen damit die komplexe Entwicklung nach, die die französische Barockoper seit 1687 genommen hat. Die von Lully begründete Gattung musste sich nämlich ständig neu erfinden und zugleich in den vertrauten Rahmen wahren, um beim Publikum Erfolg zu haben.
Von daher ist Stucks dritte und letzte Musiktragödie „Polydore“ repräsentativ für einen Geschmackswandel, der der erhabenen französischen Repräsentationsoper eine gewisse Dosis Italianitàs injizierte. Stuck, von seinen Zeitgenossen liebevoll „Ba(p)tistin“ genannt, stammte aus der Toskana und war in seiner Heimat bereits als Komponist und Cellist hervorgetreten, bevor er in den Diensten des Regenten Philippe von Orleans in Paris und Versailles Karriere als Schöpfer zahlreicher Kantaten und Bühnenwerke machte.
Was man in seinem „Polydore“ sofort heraushört, ist eine belkantische Geschmeidigkeit, die ebenso wie die gesteigerte Virtuosität einiger Arien Stucks italienische Wurzeln verrät. Stucks Musik wirkt insgesamt sehr „reif“ – obwohl sie wohl schon vor 1720 komponiert wurde, erschiene auch eine Entstehung deutlich nach 1720 plausibel. Wenn Rameau damals im Publikum gesessen hat, so dürfte er die Ohren gespitzt und gut aufgepasst haben.
Das Libretto ist vom 3. Buch der Aeneis inspiriert und bezieht seine Spannung aus einer Verwechslung: Polydorus, Sohn des trojanischen König Priamos, wurde im Kindesalter absichtsvoll mit Deiphylos, dem Sohn des thrakischen Königs Polymnestor, vertauscht. Im Glauben, es handle sich um Polydorus, liefert dieser seinen Sprößling an die Griechen aus und wird so unwillentlich zum Sohnesmörder.
Die Griechen stimmen als Gegenleistung einer Heirat zwischen ihrer Prinzessin Deidamia und dem (vermeitlichen) Sohn des Thrakerkönigs zu. Immerhin: Polydorus und Deidamia lieben sich. Doch der Götterzorn wendet sich gegen den König und seine machtpolitischen Opfer- und Heiratspläne. Dass Polydorus überdies der jüngere Bruder von Polymnestors zweiter Frau Ilione ist, sorgt für weiteren emotionalen Zündstoff. Zwar wird Ilione recht bald über die wahren Verhältnisse aufgeklärt, doch hängt sie auch wie eine leibliche Mutter an Deiphylos, der an Stelle des Polydorus den Opfertod stirbt – ein typisches Tragödien-Dilemma zeichnet sich ab.
Die Verwicklungen kulminieren im Suizid des Polymnestor auf offener Bühne, am Schluss eines dramatischen instrumentalbegleiteten Rezitativs, mit dem die Oper abrupt „im Nichts“ endet. Zwar hat Stuck später noch einen Triumphchor nachgeliefert, um dem Happy End der Liebenden Raum zu geben. Vashegyi hat sich jedoch dafür entschieden, die radikalere Erstfassung beizubehalten.
Die Titelrolle wird in „Polydore“ von einem Bariton gesungen, der in Tassis Christoyannis einen Darsteller mit feinfühliger und nobler Tongebung hat. Polymnestor hingegen findet in Thomas Dolié einen eindrücklichen Sachwalter, der die Verblendung dieser Figur mit gebieterischer Bassstimme verkörpert. Hélène Guilmettes sopranleuchtende Ilione ringt mit sich als Gattin, Mutter und Mitwisserin, ohne die Ereignisse in ihrem Lauf stoppen zu können. Ihren emotionalen Wechselbädern haben Stuck und sein Librettist Simon-Joseph Pellegrin zwei komplexe und emotional aufgeladene Monologe zu Beginn des 1. und 2. Aktes gewidmet, die neben einem exquisiten klassischen französischen Air des Polydore zu den Höhepunkten der Oper gehören.
Nicht minder facettenreich ist die den 4. Akt eröffnende Arie der Deidamia, die von Judith van Wanroij ebenfalls gewohnt ausdrucksstark verkörpert wird. Für eine glänzende Widergabe in vielen kleineren Rollen bürgt Cyrille Dubois, der die teilweise koloraturgespickten Einlagen in den Divertissements mit seinem hohen Tenor veredelt. Außerdem erfreut der kernigdunkle Bass von David Witczak und der funkelnde Sopran von Chloé Briot, die vor allem mit der Arie einer Matrosin im Divertissement des 2. Aktes bezaubert.
Die warme Akustik des Bela-Bartok-Saals im Budapester MÜPA unterstreicht die lyrischen Qualitäten dieser Musik. Hervorzuheben sind auch die stilistische Souveränität des geschmeidig aufspielenden Orchesters wie auch des versatilen Chores, der die durchlichtete Polyphonie seiner Partien zur Geltung bringt.
György Vashegyi treibt die Handlung mit sicherer Hand bis zum dramatischen Ende voran, lässt seinen Sängerinnen und Sängern dabei aber immer genügend Raum, um die spannungsvollen Rezitative mit sanglichem Schmelz darzubieten. Geschmeidig fügen sich auch die unerlässlichen Tänze ins Geschehen ein, bei denen Stuck den Konventionen mit eingängigen Motiven und rhythmischer Prägnanz gerecht wird.
Georg Henkel
Trackliste
1 | CD 1: Prolog, Akt 1 | 60:28 |
2 | CD 2: Akte 2 & 3 | 54:36 |
3 | CD 3: Akte 4 & 5 | 42:48 |
Besetzung
Purcell Choir & Orfeo Orchestra
György Vashegyi, Leitung
So bewerten wir:
00 bis 05 | Nicht empfehlenswert |
06 bis 10 | Mit (großen) Einschränkungen empfehlenswert |
11 bis 15 | (Hauptsächlich für Fans) empfehlenswert |
16 bis 18 | Sehr empfehlenswert |
19 bis 20 | Überflieger |