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L’Egisto
Info
Musikrichtung:
Barock / Oper
VÖ: 11.04.2023 (CVS / Note 1 / 2 CD / DDD / 2021 / CVS 076) Gesamtspielzeit: 125:50 |
MYTHOS MEETS MADNESS
Gleich mit den ersten klar und prägnant artikulierten Akkorden des Ensembles „Le Poème Harmonique“ springt man in Francesco Cavallis Oper „L’Egisto“ hinein: In ein Werk, das sich als arkadisches Schäferspiel tarnt, in Wahrheit aber ein barockes Drama heftigster, auch zerstörerischer Leidenschaften ist. „Sie küssten und sie schlugen sich“ könnte der Untertitel lauten, und zwar bis zum Beinahe-(Selbst)Mord. Oder sie werden verrückt – vornehmlich wegen nicht erfüllter Liebe.
Egisto, Clori, Lidio und Climene sind ein Quartett, das es nach Irrungen und Wirrungen auf die Insel Zakynthos verschlagen hat, wobei die ursprünglichen Paarungen durcheinander geraten sind. Jede(r) hat Grund, jede(n) der Untreue zu verdächtigen, was durch weiteres nicht minder affektlabiles Personal und aufgebrachte Göttinnen befeuert wird.
Hirt Egisto leidet, weil ihn die angebetete Clori abblitzen lässt, die inzwischen mit Lidio verbandelt ist, der eigentlich mal mit Climéne liiert war. Die Göttin Venus verfolgt Egisto, weil er ein Abkömmling des Apoll ist, mit dem die Schönste der Schönen einen Zwist hat. Daher sorgt ihr Söhnchen Amor bei der Titelfigur mit Hilfe einer Furie für zunehmende mentale Zerrüttung.
Für Egisto haben Cavalli und sein Librettist Giovanni Faustini die umfangreichste Wahnsinnszene der Operngeschichte geschrieben, ein fast 200 Takte währendes rezitativisch-arioses Rasen, das in dieser Produktion vom Bariton Marc Mauillon mit fantastischer Vokalakrobatik gesungen wird: Eine hinreißende Kaskade dunkelschäumender Emotionen, wilder Beschwörungen und Halluzinationen. Das kann passieren, wenn einem die Götter nicht hold sind!
Gegen den Irrsinn helfen auch nicht die Beziehungstipps der bejahrten (aber immer noch lüsternen) Amme Dema weiter. Der für den Liebeskummer verantwortliche Gott Amor wird zwischenzeitlich von den Geistern frustriert-verlassener Frauen aus der griechischen Mythologie (Semele, Dido, Hero und Phädra) verfolgt und entkommt nur mit Apollos Hilfe unter der Bedingung, die unsortierten Verhältnisse wieder gerade zu rücken. Bis dahin wird geturtelt und getobt, geflirtet und gestritten, dass es eine wahre Freude ist. Kein Zweifel: Dieser wilde Eintopf aus Mythen und Madness ist venezianische Barockoper auf ihrem ersten Höhepunkt!
Cavalli schrieb das Werk 1643, im Todesjahr seines Lehrers Monteverdi, und wie dieser weiß er ganz genau, wie man den üppigen Text Faustinis in leidenschaftlich sprechenden Gesang verwandelt. Dabei gibt es neben der besagten Wahnsinnszene manches zu entdecken, z. B. ein Lamento, dessen schmerzlich-dissonante Harmonik fast genauso klingt wie das der Dido aus Purcells späterer berühmter Oper – Cavalli war für diesen offenbar kein Unbekannter …
Ensembleleiter Vincent Dumestre zieht sämtliche Register seines kleinen, aber luxuriös besetzten „Orchesters“, das mehr eine Band ist und vor allem Continuo mit allen möglichen und auch exotischen Zupfinstrumenten ausgestattet ist. Ob das nun bis ins Detail historisch korrekt oder mehr eine „baroque fantasy“ ist – die Ohren genießen jede Note! Was da an Stimmungen und Affekten allein aus der Begleitung erwächst, erstaunt und entzückt!
Vor allem bei dem mitreißenden Tempo, bei dem man manchmal die zukünftigen Musikkomödien Rossinis erahnen kann. Freilich kommt es hier noch nicht zu dessen großen Ensembles und finalen Steigerungswellen. Alles fließt, die Musik besteht aus der permanenten Verwandlung von Stimmungen, Ausdruck, Szenen, in die geschlossene „Nummern“ eingeflochten werden. Es gibt nur wenige kurze Airen oder Duette, hier und da einen kleinen Chor der Solist:innen. Die Musik folgt dem Text und unterwirft sich seiner Dramaturgie.
Die Sänger:innen, neben dem famosen Marc Mauillon insbesondere Sophie Junker als Clori und Ambroisine Brè als Climéne, Zachary Wilder als Lidio und Roman Bockler als Hipparco sowie Nicholas Schott als Dema, lassen stimmlich und darstellerisch keine Wünsche offen. Ihre Interpretation ist überaus lebendig und spontan, mit geschliffenem Italienisch und einem stufenlosen Übergang von einer mehr deklamatorischen und einer eher lyrischen Tongebung, ganz so, wie es der Ausdruck erfordert. Schmerz und Humor, Verwirrung und Sinnlichkeit, Zorn und Ergebung gehen bei ihnen eine unwiderstehliche Mischung ein.
Man wundert sich nicht, dass dieses Werk Cavallis seinerzeit ein Hit wurde!
Georg Henkel
Besetzung
Le Poème Harmonique
Vincent Dumestre, Leitung
So bewerten wir:
00 bis 05 | Nicht empfehlenswert |
06 bis 10 | Mit (großen) Einschränkungen empfehlenswert |
11 bis 15 | (Hauptsächlich für Fans) empfehlenswert |
16 bis 18 | Sehr empfehlenswert |
19 bis 20 | Überflieger |