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La Voix Humaine
Info
Musikrichtung:
Klassische Moderne / Neoklassizismus
VÖ: 05.01.2023 (Alpha / Note 1 / CD / DDD / 2022 / Alpha ) Gesamtspielzeit: 70:47 |
PSYCHODRAMA
Mit der Aufnahme von Francis Poulencs „La Voix Humaine“ hat sich die Sopranistin Veronique Gens einen langgehegten Wunsch erfüllt. Der Einakter auf einen Monolog von Jean Cocteau bringt das Ende einer Liebesbeziehung auf die Bühne. Man hört bzw. erlebt dabei nur die Frau, die ihren Geliebten über ein nicht allzu stabiles französisches Telefonnetz anruft. Der Mann hingegen bleibt über die Dauer der rund 45 Minuten, die das Stück währt, eine nur für seine Geliebte wahrnehmbare Stimme im Telefonhörer. Die Probleme mit dem Festnetz waren zur Entstehungszeit des Werks 1958 durchaus plausibel: abreißende Verbindungen, falschen Anschlüsse, das „Fräulein vom Amt“.
Dazu kommen die menschlichen Kommunikationsprobleme, kondensiert zu einem archetypischen „Mann-Frau-Beziehungs-Desaster“ voller Begehren, Verletzungen, Hoffnungen und Enttäuschungen. Cocteau bzw. Poulenc lassen die Beziehung in den Rückblenden der Geliebten Revue passieren. Man konnte weder mit noch ohne einander, man liebte sich und man hasste sich und am Ende war und ist jede/r für sich allein und einsam. Das Gespräch ruckt, wird unterbrochen, beginnt von neuem; zahllos sind die aufgeregten „Allô, allô …?!“ der Frau. Eine Erlösung ist nicht vorgesehen: „Je t’aime …“ – auf das finale Liebesgeständnis der Frau bekommt keine Antwort außer beklemmender Stille.
Der Komponist hat diesen Monolog mit einem psychologisch komplexen, gestisch-rhapsodischen Orchestersatz durchwirkt und interpunktiert. Durch die vielen Zäsuren oder Fermaten lässt er der Sängerin viel Freiheiten für die individuelle Gestaltung. Stufenlos vollzieht sich der Wechsel von deklamierenden zu gesungenen Abschnitten, von atemlosen Flüstern bis hin zum erstickten Schrei. Manie und Resignation, Nostalgie und Sentimentalität, Begehren und Wut wechseln sich in dieser Tour de force ab.
Veronique Gens nutzt diese Möglichkeiten für eine ausgesprochen eindrucksvolle Interpretation der fordernden Partie. Mit perfekter Diktion und differenziert koloriertem Vokalausdruck verleiht sie den Aufschwüngen und Abgründen dieser letztlich scheiternden Liebesbeziehung einen intensiven Ausdruck. Erneut erlebt man die Sängerin auf der Höhe ihrer Kunst.
Das Orchestre National de Lille schafft dazu unter der Leitung von Alexandre Bloch tiefenscharf ausgehörte Resonanzräume. Ihre Qualitäten stellen die Musiker:innen außerdem in Poulencs „Sinfonietta“ aus dem Jahr 1949 unter Beweis: Ein dichtes neoklassizistisches Spiel mit tonalen Themen und traditionellen Formen sowie Anspielungen auf eigene Werke, z. B. das Konzert für Orgel, Pauken und Orchester. Obschon vom Umfang und Aufwand her eine ausgewachsene Sinfonie, wirkt das nach der Seelenpein der vorangegangenen Tragödie fast schon wie ein versöhnlicher Kehraus und in der Kopplung nicht so ganz überzeugend. Der frische Zugriff der Interpret:innen kann auch nicht verhehlen, dass die Zeit über diese Stiladaptionen etwas hinweggegangen ist.
Georg Henkel
Trackliste
1 | La Vox Humaine |
2 | Sinfonietta |
Besetzung
Orchestre National de Lille
Alexandre Bloch, Leitung
So bewerten wir:
00 bis 05 | Nicht empfehlenswert |
06 bis 10 | Mit (großen) Einschränkungen empfehlenswert |
11 bis 15 | (Hauptsächlich für Fans) empfehlenswert |
16 bis 18 | Sehr empfehlenswert |
19 bis 20 | Überflieger |