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Reviews

Dufay, G. (Cantica Symphonia)

Quadrivium. Motetten Vol. I


Info

Musikrichtung: Renaissance Ensemble

VÖ: 01.09.2005

Glossa / Note 1
CD DDD (AD 2004) / Best. Nr. GCD P31901


Gesamtspielzeit: 77:49

SENSUS VS. NUMERUS

RATIONALITÄT UND SINNLICHKEIT

Numerus und sensus, Zahlhaftigkeit und Sinnlichkeit, so lauteten im Mittelalter die beiden Pole der Musik. Als Schwester der Arithmetik, Geometrie und Astronomie gehörte die Musik als musica zu den vier mathematischen Künsten, dem Quadrivium. Die musikalische Kunst war in erster Linie Theorie, die um proportionale, zahlhafte Intervallverhältnisse kreiste. Gott selbst hatte nämlich nach biblischem Zeugnis die ganze Schöpfung „nach Maß, Zahl und Gewicht“ (Weisheit 11,20) eingerichtet und dem Kosmos seine harmonischen Gesetzte eingeschrieben. Die musica, die an dieser Ordnung teilhatte, war ein Universum im Kleinen, ein Mikrokosmos.
Mit klingender Wirklichkeit hatte diese „Welt-Musik“ nichts zu tun, eher mit den unhörbaren Rhythmen der Natur, der Leib-Seele-Balance des Menschen und den Bewegungen der Planeten, die man sich als vollkommene „Harmonie der Sphären“ vorstellte.
Überhaupt gehörte die praktische Ausführung von Musik zum Handwerk, galt zunächst niedere (ja sogar „tierische“), da untheoretische Tätigkeit, zu der kein tieferes Verständnis der mathematischen und kosmischen Zusammenhänge nötig war. Bezeichnenderweise sprach man bei real erklingender Vokal- und Instrumentalmusik Musik nicht von musica, sondern allgemein von cantus oder cantilena (also Gesang)!
In den Kompositionen aus dieser Zeit finden sich allerdings vielfältige Einflüsse der unsinnlichen, spekulativen Mess- und Zählkunst. Bereits der Gregroianische Choral bedurfte als der geistliche Gesang des Mittelaltes eines theoretischen Überbaus. Das Wissen um die kombinatorischen Möglichkeiten in der Stimmführung und rhythmischen Gliederung sowie die Geheimnisse der Zahlensymbolik gehörte zum Rüstzeug der späteren Kapellmeister, die den Theoretiker und Praktiker in sich vereinten. Im Laufe des Mittelalters wandelte sich die denn auch die zunächst einst so abstrakte musica zunehmend zur praxisorientierten „Musiktheorie“.
Bei der klingenden Musik kam dann freilich auch der sensus ins Spiel. Klangsinnlichkeit und Klangwirkungen spielten in der Praxis eine wesentliche Rolle. Die Musik wirkte auf Herz und Seele der Hörenden, bewegte und verzückte und vermochte gar den Eindruck eine himmlischen Engelsmusik zu wecken.

Als Synthese von Zahlenkunst und Klangschönheit markieren die etwa 30 erhaltenen Motetten von Guillaume Dufay (ca. 1397-1474) einen Gipfel der sinnlich-rationalen Musikanschauung des Mittelalters.

INTERPRETATION ALS BALANCEAKT

Wie aber dem diffizilen Verhältnis von numerus und sensus in einer modernen Interpretation gerecht werden? Vor diese Aufgabe gestellt, hat sich das italienische Ensemble Cantica Symphonia zu einem Ansatz zwischen philologischer Strenge und künstlerischer Freiheit entschieden.

Sehr viel Überlegungen hat man auf die Stimmung verwandt. Denn die Entscheidung für mehr oder weniger reine Intervalle (die zahlreichen Theorien seit der Antike sind eine Wissenschaft für sich) wirkt sich auf den Zusammenklang aus. Deutlich ist zu hören, wie bewusst Dufay mit den Einzelstimmen nicht nur Linien, sondern auch harmonische Flächen, ja Räume gestaltet hat.
Dies kann noch durch den Einsatz von Instrumenten unterstützt werden, der historisch allerdings weniger gesichert ist als der Vortrag a capella.
Bei dem Versuch, die komplexe Architektur der Stücke aufscheinen zu lassen und zugleich den wechselnden Farben und „Stimmungen“ der Musik gerecht zu werden, gehen die Musiker/innen von Cantica Symphonia über vergleichbare Einspielungen hinaus. Bei der maßstabsetztenden Einspielung des Huelgas Ensemble (harmonia mundi) z. B. wird nur die Unterstimme - der als Tenor bezeichnete cantus firmus - durch Flöten oder Posaunen ausgeführt. Cantica Symphonia hingegen verstärkt zusätzlich die Singstimmen mit diversen Zupf-, Streichinstrumenten oder gestaltet die untextierten „Leerstellen“ der Motetten als „Zwischenspiele“. Die Motette Anima mea liquefacta est erklingt sogar zunächst in einer reinen Instrumentalfassung als ihre eigenes „Vorspiel“. Die reine Vokal-Besetzung bleibt die Ausnahme. Dabei verfügt das Ensemble über schlackenlos klingende und außerordentlich homogen geführte, sensibel gestaltende Stimmen.

Berückend und erhellend wirkt sich die Mischbesetzung u. a. beim Alma redemtoris mater (II) oder dem herrlichen Flos florum aus, wo der Wechsel von gemischten und rein vokalen Ensembles zu einer ungeahnten Weiträumigkeit führt. Auch die für ausgefeilte Zahlenarchitektur berühmte vierstimmige Motette Nuper rosarum flores erfährt durch die Blechbläserbesetzung und Stimmverdopplungen in den Tutti-Abschnitten eine noch einmal gesteigerte, erhabene Klangfülle.
Nicht zuletzt auch wegen des eher weichen Klangbildes neigen die polyphonen Linien allerdings dazu, miteinander zu verschmelzen. Die wie mit dem Silberstift gezogenen Stimmen des Huelgas Ensembles inszenieren die Satzkunst Dufays tiefenschärfer, ohne dass der Wohlklang zu kurz käme. Auch was die rhythmische Architektur angeht, enthüllen die Belgier mehr von den strukturellen und dramatischen Potentialen der Musik.
Zum Vergleich sei auch noch die vor kurzem veröffentlichte Einspielung des Ensembles Micrologus (Zig-Zag-Territories) herangezogen (Review). Bei dieser reinen a capella-Version ist der Klang relativ hallig und der Stimmton liegt insgesamt tiefer, aber die Stimmen sind aufnahmetechnisch deutlich geschieden. Und während das Marienlob Inclita stella maris hier wegen der insgesamt schnelleren Pulsation einen regelrechten Klangsog erzeugt, wirkt es mit seinem gezupften instrumentalen „Untersatz“ bei Cantica Symphonie eher statisch.

Insgesamt also eine Einspielung, die die zukunftsweisende klangsinnliche Seite der Kompositionen in den Vordergrund rückt. Man darf daher gespannt sein, welche neuen Perspektiven die 2. Folge dieser Gesamteinspielung eröffnen wird. Ein besonderer Gewinn sind diesmal auch die beiden Essays im Booklet (dessen Covergestaltung wieder einmal preiswürdig ist). Vor allem die anspruchsvolle Einführung in die musikalische Mathematik durch Guido Magnano öffnet das Tor in eine faszinierende Welt.



Georg Henkel

Trackliste

1Salve flos Tuscae gentis7:44
2Apostolo glorioso, da Dio electo3:25
3Imperatrix angelorum4:48
4Alma Redemptoris Mater (II)4:16
5Gaude Virgo, Mater Christi4:39
6Ecclesiae militantis5:42
7Anima mea liquefacta est5:52
8Vasilissa, ergo gaude3:11
9Salve Regina8:48
10Inclita stella maris4:25
11Alma Redemptoris Mater II4:26
12Balsamus et munda cera4:24
13Juvenis qui puellam5:15
14Flos florum3:56
15Nuper rosarum flores6:58

Besetzung

Alena Dantcheva - Sopran und Harfe
Laura Fabris, Maria Teres Nesci, Sveva Martin – Sopran
Ginaluca Ferrarini – Tenor und Harfe
Fabio Funari, Guiseppe Maletto, Livio Cavallo – Tenor
Marco Scavazza – Bariton

Guido Magnano – Orgel
Marta Graziolino, Margret Kröll – Harfe
Svetlana Fomina, Efix Puleo – Fidel
Mauro Morini – Trompete und Posaune
David Yacus – Posaune
David Rebuffe – Laute

Ltg. Guiseppe Maletto
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