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Scylla & Glaucus
Info
Musikrichtung:
Barock Oper
VÖ: 07.10.2022 (CVS / Note 1 / CD / DDD / 2021 / Best. Nr. CVS 068) Gesamtspielzeit: 162:49 |
UNHEIMLICH BETÖRENDE STIMMUNGSBILDER
Eine einzige Oper hat Jean-Marie Leclair, der Begründer der französischen Violinschule, komponiert. Eine große lyrische Tragödie in der Tradition Lullys, musikalisch freilich auf der Höhe seiner Zeit und, was die Orchestrierung und Virtuosität anging, betont „geigerisch“. Das Werk schüttet ein Füllhorn von Ideen vor dem Publikum aus. Die Oper ist ein Akt von ganz bewusster Kunstdemonstration – hier wollte sich einer mit den großen seiner Zunft messen und zeigen, wozu er fähig war.
Doch es half nichts: Das Werk, das 1746 uraufgeführt wurde, erlebte eine einzige Serie von 18 Aufführungen und verschwand dann im Archiv. Offenbar waren gerade der Traditionsbezug des Librettos und die gediegene Herangehensweise des Komponisten das Problem: Die psychologische Entwicklung der Figuren erstreckt sich mit wohlgesetzten Worten und musikalischen Reizen über fünf lange Akte – und endet dann in der Katastrophe.
Nur wenige Komponisten riskierten nach Lully eine Musiktragödie ohne Happy End. Bei aller Dramatik: Es musste doch irgendwie gut ausgehen. Etwas anderes wurde vom Publikum nicht goutiert, schon gar nicht im frivolen 18. Jahrhundert. Man wollte seine verliebten Heldinnen und Helden triumphieren sehn.
Doch in Leclairs Oper verliert der Hirt Glaucus am Ende seine Scylla, die von der Zauberin Kirke in einen monströsen, von Meereswogen und Ungeheuern umtosten Felsen verwandelt wird. Hätte er bloß nicht versucht, die Angebetete mit Hilfe der Zauberin für sich zu gewinnen! Denn Kirke verguckt sich ihrerseits in den flotten, aber standhaften Jüngling und straft die Treue des Unwilligen, indem sie seine Liebste vernichtet.
Das Schreckensbild hat Leclair mit einem orchestralen Coup, einem echten „choc“, inszeniert: mit aggressiv wogenden Streichern, strudelnden Hozlbläsern und heulenden Flöten.
Es ist dies nicht der einzige eindrucksvolle Einfall der Partitur, die zu den besten des 18. Jahrhunderts zählt. Leclair verfügt über eine blühende Fantasie, mit der er rustikale und raffinierte, düstere oder betörende Stimmungsbilder malt und sein Personal trefflich charakterisiert: Das pastorale Liebespaar erscheint oft im Setting von bukolischen fête galant, während im wirkungsvollen Kontrast dazu die Welt der Zauberin Kirke je nach Laune der Dame von schmeichelnder Süße ins Pathologische umschlagen kann. Dann tanzen die Unterweltgeister ihre teuflischen Reigentänze.
Diese „Twists“ realisieren der Violinist und Dirigent Stefan Plewniak und sein kleines, aber schlagkräftiges Ensemble „Il Giardino d'Amore” mit eindrücklicher Vehemenz. Sie bieten eine archaisierende und zugleich frappierend moderne Lesart der Partitur. Es wird sehr fein artikuliert, die musikalischen Linien verschlingen sich mit ähnlich kontrollierter Wildheit ineinander wie die Schlangen des Medusenhauptes auf dem Coverbild. Weitgestaffelt ist die Dynamik, extrem fallen die Tempikontraste aus – manchmal huschen Tänze und Chöre wie Phantome vorbei. Lichtverhältnisse und Farbwerte wechseln ständig; gedehnte Generalpausen erhöhen die Spannung. Vor allem das Locken und Rasen der erst verliebten und dann hasserfüllten Kirke findet dadurch einen starken Resonanzraum. Eine gleichermaßen dramatische wie atmosphärische Version von Leclairs Meisterwerk!
So exotisch eingefärbt, ja durchaus manieriert in der Auffassung sind die Vorgängerproduktionen nicht: John Eliott Gardiner taucht die Erstaufnahme Ende der 1980er Jahre mit britischem Understatement ins Licht der Aufklärung und legt die Musik in generöser Weiträumigkeit vergleichsweise klassizistisch an, ohne dass die schiere Musikalität dadurch zu kurz käme. Insgesamt ist diese Produktion gut gealtert und besticht durch eine nach wie vor erstklassige SängerInnenbesetzung mit Howard Crook, Donna Brown und Rachel Yakar in den Hauptrollen.
Französisch-barocker und auch dunkler klingt dagegen die ebenfalls spielfreudige Fassung von Sébastien d'Herin von 2015, die zugleich die stilistischen und technischen Fortschritte in der Aufführungspraxis spiegelt. Die Holzbläser färben den Orchesterklang charakteristisch ein, das Continuospiel, insbesondere das Cembalo, wird prominent in Szene gesetzt. Sängerisch gibt sich Version mit Anders C. Dahlin, Emöke Barath und Caroline Muthel jugendlich-schlank, die Zauberin Circe wahrt auch in der Raserei ein französisches Maß.
Plewniak nun hat mit Mathias Vidal, Chiara Skerath und Florie Valiquette drei SängerInnen mit charakteristischem und kontrastreichen Timbres ausgewählt: Mathias Vidal und Chiara Skerath verlebendigen das etwas stereotype Titelpaar mit ihrer emotionalen Energie, agieren dabei streckenweise vielleicht schon mit etwas zu viel Druck: Leclair hatte die beiden Partien ja mit Blick auf die Fähigkeiten seiner damligen Interpreten eher elegisch und lyrisch angelegt.
Vidal vereinigt in seinem vielfache bewährten Tenor expressive Hingabe und vokale Reserven auch für die schwierige Bravourarie im 5. Akt. Chiara Skerath ist weniger eine liebreizende denn spröde, dramatische Scylla – man hätte sie sich vom Stimmtyp auch gut als Kirke vorstellen können.
Die entfaltet durch Florie Valiquette ein ebenso verführerisches wie gefährliches Potential. Die Sängerin wechselt an einigen exponierten Stellen vom Singen in einen ausdrucksvollen Sprechgesang und kostet ihre Triumphe mit einem Hohnlachen aus – so etwas steht nicht der Partitur, es wirkt aber überzeugend und korrespondiert mit der fantasievollen, nachschöpferischen Lesart von Il Giardino d'Amore. Insgesamt spitzt Plewniak die Affekte am intensivsten zu und kostet die Italianismen in der Partitur vernehmlicher aus als seine Vorgänger. Ein packendes Gegenstück zur Einspielung von d'Herin!
Georg Henkel
Besetzung
Il Giardino d'Amore
Stefan Plewniak, Violine & Leitung
So bewerten wir:
00 bis 05 | Nicht empfehlenswert |
06 bis 10 | Mit (großen) Einschränkungen empfehlenswert |
11 bis 15 | (Hauptsächlich für Fans) empfehlenswert |
16 bis 18 | Sehr empfehlenswert |
19 bis 20 | Überflieger |