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Origins
Info
Musikrichtung:
Neue Musik Vokal
VÖ: 01.10.2021 (Fuga Libera / Note 1 / CD DDD / 2020 / Best. Nr. FUG 784) Gesamtspielzeit: 75:24 |
GENESIS, HORMONE UND MYTHOLOGIE
Eine spontane Assoziation, die sich beim Hören dieser CD einstellte: Karlheinz Stockhausen. Dieser Komponist nahm vor allem seit den 1970er Jahren die großen Lebenszyklen zum Ausgangspunkt vieler seiner Werke, am monumentalsten in seinen LICHT-Opern über die sieben Wochentage. Insbesondere in MONTAG aus LICHT hat er sich mit dem Werden des Lebens von der Zeugung bis zur Geburt (und möglichen Neu- oder Wiedergeburt) befasst. MONTAG ist der Eva-Tag, der Tag der Urmutter des Lebendigen und der Evolution. In einer Szene tritt ein engelhafter Mädchenchor auf, der eine Hymne auf Eva singt, dann wird ein Konzertflügel zwischen die Beine einer riesigen Eva-Figur geschoben und diese mit einem Klavierstück befruchtet, bevor sieben schöne Knaben aus der Vagina purzeln, die von fünf „Bassettinnen“, Busi, Busa, Muschi und Cœur, empfangen und in die Geheimnisse des Lebens und die Erotik eingeführt werden. Das ist, mit viel Humor und Merkwürdigkeiten aufgeladen, ganz eindeutig die Jungs-Perspektive, die mehr über männliche Potenzvorstellungen und weniger über die Geheimnisse weiblicher Fruchtbarkeit enthüllt. So ist das, wenn die Musikgeschichte vor allem von Männern geschrieben wird.
Das muss aber nicht so bleiben! Die sechs Damen des in Leipzig beheimateten Vokalensembles „Sjaella“ (abgeleitet vom schwedischen Wort „själ“ = Seele) beschäftigen sich auf ihrem neuesten Album „Origins“ im Stück „Hypohysis“ nun nicht (nur) mit der Zeugung, sondern dem, was im weiblichen Körper so vor- und vorausgeht, wenn Hormone und Eierstöcke ihren Job machen. Dieser tiefe Einblick wird nicht weniger merkwürdig und humorvoll serviert als Stockhausens hymnische Befruchtungs-Fantasie, sozusagen als Mini-Oper mit singenden Körperchemien und Menstruationswundern, schwellenden Foliken und orgasmatischem Eisprung.
Sehr witzig und auch ein bisschen irritierend (für Männer). So was kann wahrlich nur von Frauen erdacht und augenzwinkernd präsentiert werden, ohne dass es bemüht oder peinlich wirkt. Das Konzert der aufgeregten Eizellen erinnert etwas an die berühmte Szene in Woody Allens Film „Was Sie schon immer über Sex wissen wollten aber nicht zu fragen wagten“, in dem eine Truppe hypernervöser Spermien – lustige Männlein in weißen Fallschirm-Anzügen mit Schwänzen – auf den Absprung wartet. Nun also wissen wir: Auch bei den Eizellen geht es hoch her!
Neben so viel Humor fehlt es aber nicht an Ernstem und Existenziellem: „Origins“ ist eine Frucht der Corona-Pandemie und der Lockdowns. Das Album dreht sich im weitesten Sinne um die großen Lebenszyklen, bringt Genesis und Hormone, wechselnde Aggregatzustände, Liebeslust und Todesahnung zusammen, spielt mit den Mythen von Erotik, Fruchtbarkeit und Geburt, Wachstum, Traum und Auflösung. Dazu kombinierten die sechs stimmlich wirklich famosen Sängerinnen neue Musik und alte Musik – hier vor allem von Henry Purcell und Zeitgenossen – in Arrangements für ihre spezielle Besetzung. Das Sjaella-Sextett ist in allen Genres und Gattungen gleichermaßen zu Hause bzw. generiert z. B. aus Minimalmusic und Barock stimmige Synthesen. Dabei beeindrucken der mal sirenenhafte und ätherische, dann wieder handfeste und kokette Gesang ebenso wie die Fähigkeit, die fehlenden tieferen Register durch einen Reichtum an Farben und raffinierten stimmlichen Manövern zu kompensieren.
Die älteren Werke werden dabei bisweilen ziemlich stark transformiert und klingen dann selbst nach neuer Musik. So vermischen sich Themen und Epochen, das Album wirkt wie bei aller Vielfalt aus einem Guss und folgt einer lockeren, aber trotzdem sinnigen Dramaturgie, bei dem das Ganze mehr als die Summe seiner Teile ist.
Faszinierend, originell und sicherlich auch provozierend – „Origins“ sticht aus dem postmodernen Vielerlei wirklich heraus.
Georg Henkel
Trackliste
Henry Lawes: Have you e'er seen the morning sun?
Henry Purcell: Auszüge aus “The Fairy Queen”
Meredi: Crystallized
Sjaella: Hypophysis, Vacuum
Robert Johnson: Have you seen the bright lily grow
Eriks Esenvalds: Stars
Paola Prestini: A Triptych for Our Time
Besetzung
Viola Blache, Marie Fenske, Franziska Eberhard: Sopran
Marie Charlotte Seidel: Mezzo-Sopran
Felicitas Erben, Helene Erben: Alt
So bewerten wir:
00 bis 05 | Nicht empfehlenswert |
06 bis 10 | Mit (großen) Einschränkungen empfehlenswert |
11 bis 15 | (Hauptsächlich für Fans) empfehlenswert |
16 bis 18 | Sehr empfehlenswert |
19 bis 20 | Überflieger |