Reviews
Pièces de Viole Buch 4 (1717)
Info
Musikrichtung:
Barock Gambe
VÖ: 05.11.2021 (Ricercar / Note 1 / 4 CD DDD / 2019-21 / Best. Nr. RIC 432) Gesamtspielzeit: 230:45 |
KONTINENT MARAIS IV – REISE DURCHS LABYRINTH
Mit seinem 4. Buch für Viola da Gamba, das 1717 erschien, publizierte Marin Marais, der damals schon 61 Jahre alt war, seine jüngere Konkurrenz mit der schieren Quantität, mehr noch aber der Qualität seiner Kompositionen aus dem Feld.
Als einer der Lordsiegelbewahrer des hohen französischen Stils gelang es ihm einerseits, die ehrwürdige Tradition der continuo-begleiteten Kammermusik für Gambe mit Blick auf ein Laienpublikum durch leicht spielbare, aber dennoch niveauvolle Stücke weiter zu popularisieren.
Zum anderen präsentierte Marais mit Blick auf grassierende italienisierende Moden eine kunstvolle Modernisierung à la franciase: mit Charakterstücken in einem „fremden Stil“ quer durch alle Tonarten, der exotische Szenerien, Stimmungen und Figuren beschwört, auf raffinierte Weise anspruchsvollste Spielkünste mit Imaginationen paart, die heute noch faszinieren: Da irrt jemand – bzw. die Gambe – im wahrsten Sinne durch ein „Labyrinth“, hält inne, verläuft sich, findet auf den rechten Weg zurück bis zum glücklichen tänzerischen Ausgang des Stücks. Sehr plastisch ist dies, zugleich vom Komponisten sehr präzise geformt und strukturiert.
Das Stück lädt wie viele andere „Marais-Klassiker“, die in dieser zentralen Super-Suite versammelt sind (u. a. das tieftraurige „La Reveuse“, das sinnlich wispernde „La Badinage“, das wirbelnde „Le Tourbillon“ oder die kunstvolle verschlungene „L'Arabesque“), zur gleichsam theaterwirksamen Erkundung ein.
Genau darin liegt erneut die Stärke der Interpretation von François Joubert-Caillet und den Musiker:innen von „L’Archéron“: Die Stücke, ob es sich nun um die unkomplizierteren oder die anspruchsvollsten handelt, gelingen erneut unmittelbar (an)sprechend. Von einer gewissen Etüdenhaftigkeit, die sich bei so einem Großprojekt leicht einstellen kann, merkt man nichts. Dabei profitieren ihre ausdrucksvollen Setzungen nicht zuletzt von den flexiblen Tempi, dem Reichtum an Tonformen und einer nie angestrengt wirkenden Virtuosität.
Erneut ist auch der Aufbau auch dieses 4er-Albums gelungen: Im Zentrum platziert das Ensemble jene berühmte „Suitte d’un goût Etranger“, bei der das flexibel eingesetzt Begleitinstrumentarium (inklusive Harfe) für die jeweils passende Grundierung sorgt. Darum gruppieren sich die „einfacheren“ Stücke und das äußere Passepartout bilden schließlich die beiden größer besetzten Suiten für drei Gamben und Continuo, ebenfalls eine Neuerung Marais‘.
Klanglich ist die in der Kirche Notre-Dame de Centreilles aufgezeichnete Produktion wieder angenehm tiefenscharf und kontrastreich. (Dass während dreier Suiten das Zirpen der Zikaden zu hören ist, sei dem Klimawandel geschuldet, das Konzert der Insekten habe sich unerwartet in eine andere Jahreszeit verschoben, so Joubert-Caillet.) Auch die Begleittexte lassen keine Wünsche übrig, will man tiefer in dieses musikalische Labyrinth eindringen. Nun fehlt sozusagen nur noch der „Ausgang“ bzw. „Ausklang“ mit dem 5. Buch – wir sind gespannt!
Georg Henkel
Besetzung
Philippe Grisvard, Cembalo
Angélique Mauillon, Triple-Harfe
Miguel Henry, Theorbe & Gitarre
André Heinrich, Theorbe
So bewerten wir:
00 bis 05 | Nicht empfehlenswert |
06 bis 10 | Mit (großen) Einschränkungen empfehlenswert |
11 bis 15 | (Hauptsächlich für Fans) empfehlenswert |
16 bis 18 | Sehr empfehlenswert |
19 bis 20 | Überflieger |