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Reviews

Dufay, G. – Damett, Th. – Dunstable, J. u. a. (Gothic Voices)

Echoes of an Old Hall


Info

Musikrichtung: Gotik Vokal

VÖ: 04.06.2021

(LINN / Note 1 / CD / DDD / 2020 / Best. Nr. CKD 644)

Gesamtspielzeit: 76:03

SPÄTGOTISCHE ECHORÄUME

Das von Christopher Page 1980 gegründete Ensemble „Gothic Voices“, das zu den ikonischen englischen Alte-Musik-Ensembles gehört, hat sich vor einigen Jahren in rundum verjüngter Besetzung neu gefunden und knüpft unter der Leitung von Tenor Julian Podger nahtlos an die bemerkenswerte Tradition der Gruppe an. Treu geblieben ist man nicht nur der im wesentlichen reinen Vokalbesetzung, sondern auch dem Kernrepertoire, der (spät)mittelalterlichen Musik der britischen Inseln und ihrer wechselseitigen Beeinflussung durch die kontinentalen Strömungen, allen voran den frankoflämischen Schulen.

Dafür ist auch diese Produktion ein schönes Beispiel: „The Echoes of an Old Hall“ – das spielt nicht nur auf die altehrwürdigen spätgotischen englischen Kirchenräume an, sondern auch auf eines der berühmtesten Handschriften englischer Musik: das „Old Hall Manuscript“, welches im frühen 15. Jahrhundert zusammengestellt wurde und als eine der wenigen englischen Sammlungen die unfriedlichen Zeiten vor und während der Reformation überstanden hat. Es enthält Werke von Komponisten, die zu den Gründervätern der englischen (Kirchen)Musik gehören: John Dunstable, Thomas Damett, John Cooke, Leonel Power und andere.

Die „Gothic Voices“ bringen in ihrem Programm nicht nur einige der berühmten, meist recht kurzen geistlichen „Old-Hall“-Kompositionen zu Gehör, sondern sie verfolgen die „Echos“, die die Musik auf dem Kontinent ausgelöst hat, unter anderem bei Guillaume Dufay oder Gilles Binchois. Denn in der englischen Musik wurden früher als auf dem Festland die Terz und Sext als konsonante Intervalle geschätzt. Heute scheint uns ihre volle, harmonisierende Wirkung selbstverständlich. Die durch antike Theorien regulierte Musik des Mittelalters, der die Terz als Dissonanz galt, musste sich diese Wahrnehmung aber erst in einem längerem Erfahrungsprozess erschließen. Während also England ganz praktisch die „Schönheit der Vertikalen“ entdeckte und die europäische Musik damit bereicherte, wurden auf den Inseln umgekehrt aus dem französischsprachigen Raum die aktuellen „avantgardistischen“ Trends mehrstimmiger Musik aufgenommen.

Das Ergebnis sind jene kunstvollen gesungenen „Kaleidoskope“ und „Mandalas“, die in ihrer Machart an die üppig ausgezierten Versalien und Rankenwerke in gotischen Handschriften erinnern. Hier wie dort wird ein vorgegebener Text (bzw. eine Choralmelodie) „illuminiert“, das heißt farbig und ornamental ausgestaltet. Hier wie dort sorgen streng formales Handwerk und blühende Fantasie für einen immer wieder erstaunlichen künstlerischen Reichtum.

„Gothic Voices“ lässt die sich windenden und gegeneinander verschobenen Stimmverflechtungen selbst bei den nur zweistimmigen Kompositionen leuchten, so dass man meint, ein viel größeres Ensemble sei am Werk. Durch den GV-typischen klaren, natürlichen Tonfall werden die Textcollagen, Kontrapunkte und harmonischen Schwerpunkte ebenso wie vertrackte metrische Konstellationen ganz selbstverständlich erfahrbar, zum Schweben oder sogar zum Tanzen gebracht. Diese archaischen „Echos“ können so auch im modernen Hörer in all ihrer fremden Schönheit nachklingen.



Georg Henkel

Besetzung

Catherine King (Mezzosopran), Steven Harrold und Julian Podger (Tenor), Stephen Charlesworth (Bariton)
sowie als Gast: Josh Cooter (Tenor) und Simon Withley (Bassbariton)
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