····· Wolvespirit verkaufen Bullshit ····· Rock of Ages - Zusatzshows in 2025 ····· Ally Venable veröffentlicht Video zur neuen Single „Do you cry“ ····· Das zweite Album von Wizrd kommt zum Nikolaus ····· 40 Jahre Helloween - Das muss gefeiert werden ·····  >>> Weitere News <<<  ····· 

Reviews

Frescobaldi, G. – Bull, J. – Picchi, G. u. a. (Rondeau, J.)

Melancholy Grace


Info

Musikrichtung: Barock Cembalo

VÖ: 07.05.2021

(Erato / Warner Classics / CD / DDD / 2020 / Best. Nr. 0190295008994)

Gesamtspielzeit: 80:02

SEISMOGRAPHISCH

Auf seinem neuesten Album tritt der französische Cembalist Jean Rondeau mit zwei ausgeprägten instrumentalen Persönlichkeiten in ein intimes Zwiegespräch: Auf dem Nachbau eines italienischen Cembalos vom Beginn des 18. Jahrhunderts (Philippe Humeau) und dem wohl ältesten spielbaren Virginal, das vermutlich vom Florentiner Francesco Poggi 1575 gebaut wurde, widmet Rondeau sich melancholischen Meditationen verschiedener Meister des späten 16. und frühen 17. Jahrhunderts. Allesamt sind sie Kabinettstücke der – um es paradox auszudrücken – expressiven Introspektion: Einige der berühmten Toccaten von Girolamo Frescobaldi finden sich darunter, aber auch entlegeneres Repertoire von Luzzasco Luzzaschi oder Bernardo Storace; man hört Fantasien von Laurentius da Roma und Jan Pieterzoon Sweelinck und eine „Passacaille“ von Luigi Rossi.

All diese mehrheitlich italienischen Meister erklingen auf dem besagten ersten Instrument, das von herbstlich-herber Farbigkeit ist. Die Tiefen haben die volltönende Präsenz von Kirchenglocken, die hohen Register blitzen silbrig-golden. Die weiträumigen Resonanzen erlauben eine empfindsame Dramaturgie der Tempi, schier unbegrenzt sind die Möglichkeiten der artikulatorischen Verfeinerung durch spannungsvolle Pausen, rapide Beschleunigungen, Verzierungskaskaden. Die quasi improvisatorische Freiheit beruht auf detailgenauer, abstrakter Konstruktion. Spontan, unvorhersehbar und mitunter auch kapriziös ist diese Musik, sie vereint aristokratische Grazie mit barocker Phantastik.
Rondeau gibt sich den schmerzvoll-sinnlichen harmonischen Wendungen hin, vor allem jener Sext, die wie ein Mikro-Leitmotiv das melodische Material vieler Stücke unter Spannung setzt. Er kostet die affektiven Twists in der Musik aus, bleibt aber zugleich ein wacher Beobachter, so dass die Musik nichts an Klarheit und Prägnanz und einbüßt. Veredelt wird dies durch die alte nicht gleichstufige Stimmung, die manche Dissonanzen zusätzlich anschärft, bestimmte Intervalle hingegen ganz rein zum Leuchten bringt.

Gleichsam als Interludium hat der Interpret einen Tanz „alla Polacha con il suo Saltarello“ von Giovanni Picchi an drei Stellen eingeschaltet: Hier darf sich die Musik mit feurigem Temperament entfesseln, springt mit vitalem Puls und kraftvollen Aktzenten gleichsam aus dem Instrument in das Ohr der Zuhörenden. Nur kurz öffnen sich diese Fenster, die eine vitale musikalische Welt jenseits der chromatischen Lamenti andeuten – tatsächlich wechselt Rondeau danach lediglich sein Instrument, nicht aber die Grundstimmung.

Das zweite, das historische Virginal, hat einen gänzlich anderen Charakter. Dieser ähnelt einer Laute, ist diskreter, weich und rund und auf eine ganz andere Weise geeignet, ausgewählte Stücke von John Bull, Heinrich Scheidemann oder Orlando Gibbons zu musikalischen Seelenspiegeln zu machen, in denen sich mit seismographischer Genauigkeit emotionale Regungen abbilden. So treffen in den unterschiedlichen Instrumenten auch unterschiedliche Klangkulturen und Stile aufeinander wie Yin und Yang. Doch unabhängig von allen Unterschieden lassen die Stücke ein gleichsam ein tieferes kollektives musikalisches Unterbewusstes erahnen. Über all dies schreibt Rondeau ambitioniert, kundig und poetisch in seinem umfangreichen Essay, der in der sperrigen deutschen Übersetzung leider recht verquast wirkt.

Hat man sich erst einmal von den ersten wonnevoll-schmerzhaften Intervallen infizieren lassen, folgt man Rondeau auf seinen instrumentalen Resonanzkörpern mit wachsender Faszination und Verzauberung in dieses archetypische und zugleich ungemein raffiniert ausgestaltete Reich. Die subitle Kunst der alten Meister, auch wenn sie wie hier Vergänglichkeit, Weltschmerz und Erdenschwere beschwört, ist in dieser Form ein Hochgenuss – und sehr, sehr tröstlich!



Georg Henkel

Trackliste

Frescobaldi: Toccaten Nr. 1, 4, 7
Laurencinius da Roma: Fantaisie de Mr. de Lorency
L. Rossi: Passacaille del Seigr. Louigi
G. Strozzi: Toccata quarta per l'elevatione
Sweelinck: Fantasia cromatica
Picchi: Balla alla Polacha con il suo Saltarello (3 Versionen)
Bull: Melancholy Pavan; Melancholy Galliard
Anonymus (Scheidemann zugeschrieben): Pavana Lachrymae d'apres Dowland
Luzzaschi: Toccata del quarto tono
Storace: Recerdar di Legature
Valente: Sortemplus, con alcuni fioretti d'apres Philippe de Monte
Gibbons: Pavana a-moll
Dowland: Lachrimae Verae

Besetzung

Jean Rondeau, Cembalonachbau nach italienischem Vorbild vom Anfang 18. Jhd. (Ph. Humeau, 2007) und ein originales Virginal von F. Poggi (1575)
Zurück zum Review-Archiv
 


So bewerten wir:

00 bis 05 Nicht empfehlenswert
06 bis 10 Mit (großen) Einschränkungen empfehlenswert
11 bis 15 (Hauptsächlich für Fans) empfehlenswert
16 bis 18 Sehr empfehlenswert
19 bis 20 Überflieger