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Troisième Livre des Pièces des Viole (1711)
Info
Musikrichtung:
Barock Gambe
VÖ: 09.04.2021 (Ricercar / Note 1 / 4 CD / DDD 2017-2019 / Best. Nr. RIC 424) Gesamtspielzeit: 260:24 |
KONTINENT MARAIS III
Zehn Jahre nach seinem 2. Buch mit Stücken für Viola da Gamba und Basso Continuo und einer zwischenzeitlichen Karriere als Opernkomponist meldete sich Marin Marais 1711 mit einem voluminösen 3. Band zurück. Es galt, seinen Ruf als führender Gambenspieler Frankreichs zu befestigen, immerhin gab es jetzt auch einige jüngere Komponisten, die auf sich aufmerksam machten.
Marais überwältigte erneut durch die schiere Quantität: 134 Kompositionen waren im „Troisième Livre des Pièces des Viole“ versammelt und warteten darauf, von Amateuren oder Profis auf der Bassgambe entdeckt zu werden. Allerdings wies der Komponist im Vorwort ausdrücklich darauf hin, dass die meisten Stücke ebenso gut auf dem Cembalo, der Orgel, der Violine, Diskantgambe, Gitarre, auf Block- und Querflöten oder der Oboe ausführbar seien!
Es gab also eigentlich für keinen Musiker einen Grund, das luxuriöse Konvolut nicht zu erwerben. Zumal Marais sich die Bitten der Liebhaber zu Herzen genommen hatte, und auf die sehr vielen schwierig auszuführenden Akkorde zugunsten einer melodischeren Schreibweise verzichtet hatte. Kurz, eingängig und leichter spielbar sind denn auch viele Stücke.
Sicherlich haben auch Marais Erfahrungen als Opernkomponist ihre Spuren hinterlassen: Er etabliert die Gambe mehr als zuvor als Stimmenimitatorin, die intimste Gefühlsregungen mit fast schon vokaler Qualität und großem Atem zum Ausdruck bringen kann.
Eindrucksvolle und ausladende Variationen wie über das Folia-Thema oder die sicherlich auch sehr persönlich geprägten Trauerstücke auf Lully oder Marais Lehrer St. Colombe finden sich in der neuen Sammlung so nicht. Aber nach wie vor dominiert die klassische Tanzsuite, die von einem oft expressiven Prelude eröffnet werden kann und deren Sätze (Allemande, Courante, Sarabande, Gigue) mitunter ergänzt werden um Doubles und zahlreiche speziellere Tänze, Modisches und Exotisches (Muzette, Bourasque, Caprice, Menuet), Intimes (Plaintes) oder auch einzelne Charakterstücke (z. B. Allemande La Magnifique, Contrefaiseurs, Le Moulinet, La Folette, La Brillante u. a.) und Anekdotisches (z. B. ein tumultöses "Charivari" oder der durch Koffein befeuerte Geistesblitz "Saillie du Caffé") – etwas, dass dann ab dem 4. Buch in den Vordergrund rücken wird.
Angesichts der schieren Überfülle an auch gleichartiger Musik – wer mag die zahllosen Gavotten oder Sarabanden oder Menuette am Ende wirklich so genau auseinanderhalten? – kann man erneut bewundern, wie wenig dieser Teil der Gesamteinspielung von François Joubert-Caillet und seinem Ensemble L’Acheron als bloße Fließbandarbeit daherkommt, wie sehr vielmehr jedes Stück seine Individualität behauptet. Kaum einmal spürt man etwas von den Mühen der Ebenen bei solch einem Mammutprojekt.
Joubert-Caillet betont, dass es kaum je um ein definitive Interpretation gehen kann, weil eine solche Vorstellung Marin Marais wohl auch selbst fremd gewesen wäre. Viele Tänze sind komponierte Aufforderungen an die Ausführenden, die Musik improvisierend in immer neuen Variationen weiterzuspinnen. Einzelne Stücke könnten sich dabei zu regelrechten Zyklen auswachsen. Darauf verzichten die Interpreten der vorliegenden Aufnahme, um die 134 Stücke auf einer vertretbaren Anzahl von CDs unterbringen zu können. Aber durch ein wieder abwechslungsreiches Continuo, das von der Begleitung z. B. durch ein einzelnes Cembalo oder Zupfinstrument, bis hin zu einem kleinen Ensemble aus zweiter Gambe, Gitarre und Theorbe anwachsen kann, stehen bereits verschiedene Farbspektren zur Verfügung, um die umfangreichen Suiten, die die Musiker:innen aus dem 3. Buch zusammengestellt haben, unterschiedlich auszuleuchten.
Differenzierte Strich- und Artikulationstechniken, die variable Handhabung des Vibratos, harmonische und rhythmische Kollisionen im Begleitbass … all dies dient dazu, die Reichtümer von Marais Gambenkontinent immer wieder frisch zu präsentieren. Man durchstreift gleichsam verschiedene Gegenden, die mal mehr ländlich und pastoral, dann wieder höfisch, förmlich, pathetisch, ernst, nonchalant oder ausgelassen sein können. Manches fügt sich zu kleinen Szenen mit imaginären Handlungen wie z. B. das Finale der Suite Nr. IV auf der vierten CD. Getanzt wird überall.
Joubert-Caillet pflegt einen körperlichen, sonoren Ton, der immer wieder durch seine geradezu haptische Präsenz besticht und auch bei schnellem Spiel keine klanglichen Stressymptome zeigt. Zwar konnten die jüngsten spieltechnischen Neuerungen, die Vittorio Ghielmi und Christoph Urbanetz aus bislang unbekannter Quellen aus dem Umfeld Marin Marais’ abgeleitet haben, noch keinen Eingang finden. Die veränderten Spieltechniken werden sicherlich noch vielfältige Diskussionen auslösen und es bleibt abzuwarten, ob und wie sich die Interpretation von Marin Marais und anderen dadurch nachhaltig verändern wird.
Aber mit einigen bewährten und neuen Kräften hat Joubert-Caillet wieder Partner:innen auf Augenhöhe, die mit seinem vitalen aber ausgewogenen Ansatz in Resonanz gehen.
Und weil Ricercar-Direktor und Aufnahmeleiter Jérôme Lejeune wieder alles getan hat, damit kein Oberton und kein Gran der satten Basssubstanz verloren geht und alles zudem in natürlicher Räumlichkeit seinen Platz auf dem imaginären Podium findet, lauscht man gebannt, staunend ob der immer wieder neuen Einfälle und Eindrücke.
Georg Henkel
Besetzung
Robin Sarah van Oudenhove & Robin Pharo, Bassgambe
Miguel Henry, Theorbe, Gitarre
André Heinrich, Theorbe
Philippe Grisvard, Cembalo
So bewerten wir:
00 bis 05 | Nicht empfehlenswert |
06 bis 10 | Mit (großen) Einschränkungen empfehlenswert |
11 bis 15 | (Hauptsächlich für Fans) empfehlenswert |
16 bis 18 | Sehr empfehlenswert |
19 bis 20 | Überflieger |