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Leçons de ténèbres
Info
Musikrichtung:
Barock Geistliche Musik
VÖ: 09.04.2021 (CVS / Note 1 / CD / DDD 2020 / Best. Nr. CVS034) Gesamtspielzeit: 53:03 |
MIKROKOSMOS DER VERZIERUNGSKUNST
Nachdem er mit seinem Ensemble Les Epopées bereits einige Grand Motets von Jean-Baptiste Lully in ein neues, aufregend spektrales Barock-Licht getaucht hat, widmet sich Stéphan Fuget nun in kammermusikalischer Besetzung den erhaltenen drei "Leçons de ténèbres" von François Couperin.
Die „dunklen Lesungen“ stammen aus den Klageliedern des Propheten Jeremias und wurden traditionell am Mittwoch, Gründonnerstag und Karfreitag abends in den Kirchen während einer „düsteren Mette“ gesungen, während man nach und nach die Kerzen löschte: Der Weg Jesu in die Dunkelheit, in den Tod am Kreuz wird so auf eindrucksvolle, beklemmende Weise erfahrbar gemacht.
Die Vertonung der alttestamentlichen Lesungs-Texte blickt auf eine lange Tradition zurück; insbesondere in Frankreich entwickelten sich daraus im 17. und 18. Jahrhundert regelrechte Konzertereignisse mit prominenten Interpret:innen aus der Oper (die der Schicklichkeit halber hinter einem Wandschirm sangen, damit nichts vom heiligen Ritus ablenkte – recht erfolglos, wenn man den zeitgenössischen Berichten glaubt).
Ein Höhepunkt dieser Gattung ist Couperins Beitrag, von dem leider nur die Mittwochs-Lesungen erhalten sind. Sie zeigen den Komponisten auf der Höhe seiner Kunst der überaus reich ausgezierten und doch stets wortbezogenen melodischen Gestaltung, die gelegentlich durch expressive Chromatik und Dissonanzen bereichert wird. Eine gewisse italienische Kantabilität, die Couperin, der Freund des vermischten Stils, seiner Musik zuführt, sorgt dafür, dass die Musik stets auf ganz natürliche Weise fließt. Die Besetzung ist sparsam: Zwei Soprane singen einzeln und am Schluss auch im Duett, das ganze wird von Orgel, Gambe und Theorbe begleitet.
Fuget eröffnet auch hier neue Hörperspektiven; seine Solistinnen, Sophie Junker und Florie Valiquette bieten eine an der Deklamation der französischen Barockoper orientierte breite Ausdruckspalette. Die Stimmen dürfen groß und weit klingen. Beide kosten mit ihren schönen, sich gegenseitig bereichernden Timbres die klangmalerischen und dramatischen Momente der biblischen Textvorlage, die die Verwüstung Jerusalems beklagt, eindrücklich aus.
Gleichwohl ist das stilistisch sehr französisch aufgefasst. In seinem Begleittext geht Fuget intensiv auf die historische Verzierungspraxis ein und die Art, wie mit Klang- und Vokalfarben gearbeitet wurde, um Sinn und Sinnlichkeit der Musik gleichermaßen erlebbar zu machen: So erwähnt z. B. der Komponist und Lehrer Michel Pignolet de Montéclair in seinen Texten eine ganze Reihe von speziellen Verzierungsformen: „le coulé, le port de voix, la chûte, l’accent, le tremblement, le pincé, la flatté, le balancement, le tour de gosier, le passage, la diminution, la coulade, le trait, le son filé, se son enflé, le son diminué, le son glissé, le sanglot“. Monteclairs Umschreibung z. B. für den Sanglot, eine Art gesungenes Schluchzen, liest sich so: „Der Sanglot ist ein Enthusiasmus, der in der Tiefe der Brust durch ein heftiges Einatmen entsteht, durch das man nur einen dumpfen, erstickten Hauch zu hören bekommt.“
Wir betreten ein eigenen Mikrokosmos der stimmlichen Darstellungskunst, der mangels existierender Aufnahmen aus dem 18. Jahrhundert reiche Interpretationsspielräume eröffnet. Heute würde man wohl von "Tonformen" sprechen (so wie z. B. der Komponist Karlheinz Stockhausen). In Fugets Gestaltung gewinnt Couperins durch diese individuelle Ton-Formung ein reicheres Relief, eine eindringlichere Vertiefung der Kontraste und Affekte als frühere Aufnahmen.
Fuget überträgt seine Erkenntnisse auch auf Couperins nur im Manuskript überlieferte kleine Pfingst-Motette „Victoria Christo Resurgenti“, wo er den im Detail notierten Verzierungsreichtum der Leçons auf ein unveröffentlichtes, nicht finalisiertes Werk projiziert.
Dies überzeugt ebenso wie die Interpretation von Michel Richard Delalandes Motette „Sur le Bonheur des Justes e le Malheur des Réprouvés“, ein Beispiel für ein „stilreines“ französische Komponieren mit einem herrlichen Beginn für ein unbegleitetes Sopran-Duo. Auch hier: großes, mitunter schwärmerisches Theatrum Sacrum, das vom Aufnahmeort, der Versailler Schlosskapelle, prächtig in Szene wird!
Georg Henkel
Trackliste
Besetzung
Mitglieder des Orchestre e l’Opera Royal
Stéphane Fuget, Leitung und Orgel
So bewerten wir:
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06 bis 10 | Mit (großen) Einschränkungen empfehlenswert |
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16 bis 18 | Sehr empfehlenswert |
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