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Reviews

Neumeier, John (Hamburg Ballett)

Ghost Light


Info

Musikrichtung: Ballett

VÖ: 19.03.2021

EuroArts / Warner Classics / DVD oder Blu-ray / 2020 / Best. Nr.2065818 (DVD)

Gesamtspielzeit: 105:00

Internet:

Hamburg Ballett

WIE MOTTEN DAS LICHT…

so umschwirren die Tänzerinnen und Tänzer des Hamburg Ballett das Ghost Light, jene nackte Glühbirne, die insbesondere auf amerikanischen Bühnen platziert wird, wenn alle anderen Lichter erloschen ist und das Haus still, ohne Publikum und Darsteller in weitgehender Dunkelheit auf die nächste Probe oder Aufführung wartet, der Sage nach dabei von den Geistern verstorbener Akteure umschwebt. Ein treffliches Symbol für das Kulturleben in Corona-Zeiten. Was diese gerade einem Balletensemble abverlangen, schildert der Leiter John Neumeier im Booklet zur DVD und in seiner Werkeinführung höchst eindrücklich: Der Arbeitsprozess ist nahezu verunmöglicht, künstlerische Schaffens-, Entwicklungs- und Reifeprozesse liegen auf Eis, Sinnfragen rücken bedrückend nahe. Zumal beim Tanz, der doch von der Berührung lebt, vom Kontakt und dem miteinander in Bewegung sein. Aber der Wille zum Ausdruck, die kreative Kraft erweisen sich als umso stärker: Letztendlich begannen die Ensemblemitglieder, die Proben im Homeoffice wieder aufzunehmen. Ein 2x3 Meter großes Stück Linoleumtanzboden als Arbeitsfläche und mit dem Ballettmeister und den Kolleg:innen per ZOOM verbunden. In komplex gestaffelten Vor-Ort-Proben konnte und musste dann letztendlich all das zusammengesetzt werden, was Neumeier als coronagerechte Choreographie erdacht hat. Das Ergebnis ging im letzten Sommer bzw. Frühherbst in Baden-Baden und Hamburg tatsächlich über die Bühne und kann jetzt auf DVD oder Blu-ray daheim nacherlebt werden.

Die musikalische Basis bilden die Moments Musicaux und Impromptus von Franz Schubert, sowie dessen Allegretto c-moll und ein Satz aus seiner G-Dur Klaviersonate. Dass Neumeier dabei auf eine Kooperation mit dem Pianisten David Fray setzt, ist alles andere als Zufall. Neumeier wie Fray sind in ihrem künstlerischen Herzen zutiefst Romantiker und Individualisten, dem Gefühl, der Subjektivität und der Schönheit ebenso verschrieben wie dem Bemühen, gerade hierüber das Verbindende aller Menschen immer wieder aufs Neue zu suchen. Frays in sich und traum-versunkene, poetische Schubert-Interpretationen geben dem tänzerischen Geschehen daher die ideale, fragile Grundlage.

Neumeier hat sich dabei nicht irgendwie mit den pandemiebedingt reduzierten Möglichkeiten arrangiert. Er macht sie auch nicht nur einfach selbst zum Thema und Gegenstand, sondern lässt sie zum Verweis auf unsere Sehnsüchte, unsere Ängste, unsere Verletzlichkeit, unsere Einsamkeit und unser Bedürfnis nach Verbundenheit werden. Nur kleine Tänzergruppen durften überhaupt gemeinsam auf der Bühne agieren. Direkter Körperkontakt, gar ein pas des deux war nur solchen Tänzern erlaubt, die ohnehin als Paar zusammenleben. So ist notgedrungen viel Raum zwischen den Tänzern und um sie herum, viel Leere, die das schlichte Bühnenbild mit einer überwiegend kühlen Ausleuchtung noch zusätzlich betont. Die vertrauten, mal geschmeidigen, mal athletischen Bewegungen geraten dabei raumgreifender und strahlen doch immer wieder eine Ziellosigkeit, ein Zurückgeworfensein auf sich selbst aus, gespiegelt und verstärkt durch Schuberts Musiksprache.

Kommt es dann doch einmal zur Berührung, erfasst den Zuschauer schon fast ein heiliges Erschrecken. Ein so kompromisslos erotisch aufgeladenes Pas des deux wie etwa jenes von David Rodriguez und Matias Oberlin (Nr. 7) bekommt mit einem Mal eine gänzlich ungewohnte Intensität, erscheint in einer Welt des social distancing fast schon als „unverschämt“ und umso beglückender. Das hemmungslose, beinahe artistische Kabbeln von Karen Azatyan und Atte Kilpinen im Kontrast zu Patricia Frizas schöner Strenge (Nr. 10) ruft die Erinnerung an eine Lebendigkeit wach, die sich wir Coronamüden doch alle ersehnen. Anna Laudere und Edvin Revazov bieten einen fast schon trotzig klassischen und anmutig vollkommenen Paartanz. Und die Nummer 12 wird nach einer so erstaunlich kraftvollen wie zärtlichen Begegnung zwischen Christopher Evans und Félix Paquet schließlich in einen größeren Zusammenhang überführt. So hat jeder der Nummern ihren je eigenen Reiz, lässt aber immer Raum für unterschiedliche Deutungen und erschöpft sich nicht in einer programmatisch-erzählerischen Darstellung. Das Schlussbild – eine Art beschwörende Anbetung jenes Ghost Lights – brennt sich in die Erinnerung ein.

Die Verknappung der einzelnen Nummern, die teils durch kleine Bewegungszitate, teils durch Kostüme oder Gegenstände gesetzten, geisterhaften Reminiszenzen an einzelne Stücke aus der reichen Werkauswahl Neumeiers (Nussknacker; Nijinski; Kameliendame; Weihnachtsoratorium) bieten geschickt einer großen Vielzahl von Tänzerinnen und Tänzern eine Auftrittsmöglichkeit. Und ja: Sie alle tanzen mit solchem Ernst, solcher Hingabe und Perfektion als ginge es um ihr Leben. Und das geht es in gewisser Weise auch, denn natürlich bedroht die lange Pandemie besonders die ohnehin kurzlebigen Ballettkarrieren, die zudem auf internationalem Austausch beruhen und dabei Sinnbild einer vielfältigen Welt sind, die in der Kunst zusammenwächst und Neues entstehend lassen kann. Hoffen wir also alle, dass die Lichter bald wieder angehen!



Sven Kerkhoff

Besetzung

Hamburg Ballet
John Neumeier: Choreographie, Kostüme, Licht und Bühnenbild

David Fray: Klavier
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So bewerten wir:

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