Reviews
Nucleus
Info
Musikrichtung:
Metal
VÖ: 29.03.2019 (Nuclear Blast ) Gesamtspielzeit: 111:47 Internet: http://www.heavymetalanthem.com |
Die 1981 gegründeten Anthem schafften es ab 1985, sich in Europa als zweite stabile metallische Größe japanischer Herkunft neben den Pionieren Loudness zu etablieren, und das, obwohl sie im Gegensatz zu Akira Takasaki und seinen Mannen nie hier spielten. In jenem Jahr erschien ihr selbstbetiteltes Debütalbum, dem bis 1992 fast alljährlich weitere Studioalben folgten, ehe die lange besetzungstechnisch relativ stabile Band am Ende dieser Phase etliche Gitarristenwechsel erlebte, zudem wie jede traditionsmetallische Combo mit dem Vordringen des Grunge und in Japan der Visual-Kei-Bewegung konfrontiert wurde und so letztlich nach dem siebenten Album Domestic Booty und einigen zugehörigen Liveaktivitäten in der Heimat noch im Jahr 1992 die Segel streckte. Erst 2000 trommelte Chefdenker/Bassist Naoto Shibata eine neue Besetzung zusammen: Drummer Takamasa „Mad“ Ohuchi saß schon während der gesamten ersten Aktivitätsphase hinterm Schlagzeug, Gitarrist Akio Shimizu war der letzte Sechssaitenschwinger vor der zwischenzeitlichen Auflösung gewesen, und für den Gesang auf dem ersten neuen Album Heavy Metal Anthem konnte sogar Graham Bonnet gewonnen werden, wobei das Songmaterial so neu nicht war – es handelte sich um Neueinspielungen von Songs der ersten sieben Alben. Ohuchi wurde anschließend durch Hirotsugu Homma ersetzt, dafür kehrte aber ein anderes Altmitglied zurück: Eizo Sakamoto, Sänger auf den ersten drei Alben, stand ab dem 2001er Werk Seven Hills, dem ersten neuzeitlichen Anthem-Album mit neuen Songs, wieder am Mikrofon, bis er 2014 durch Yukio Morikawa ersetzt wurde, womit sich die Geschichte wiederholte, denn Morikawa war auch 1987 Sakamotos Nachfolger gewesen und hatte die vier letzten Alben der ersten Anthem-Phase eingesungen. Bereits zuvor hatte Homma wegen einer Verletzung aussetzen müssen und war zunächst temporär, ab dem 2014er Album Absolute World dann dauerhaft von Isamu Tamaru ersetzt worden. Das Quartett aus Morikawa, Shimizu, Shibata und Tamaru entschloß sich irgendwann, auch wieder verstärkt ein Augenmerk auf Europa zu legen, nachdem die Aktivitätsperiode ab 2000 dort allenfalls am Rande zur Kenntnis genommen worden war, was umgekehrt auch seinen Widerhall im Anthem-Songwriting fand: Auf den Alben seit 2001 dominieren japanische oder mischsprachige japanisch-englische Lyrics, wenngleich zumindest die Alben alle englische Titel haben und die Songs auch. Eine erste Liveaktivität in Europa gab es erst 2019 auf dem Keep It True XXII (siehe Marios Livebericht auf diesen Seiten), und da das Gros der Alben nur als Import erhältlich war, entschloß sich die Band im Vorfeld, eine Scheibe mit von der aktuellen Besetzung getätigten Neueinspielungen von Songs der aktuellen Aktivitätsperiode herauszubringen.
Ebenjenes Werk hört auf den Titel Nucleus, in der europäischen Pressung von Nuclear Blast als Doppel-CD, wobei die 13 neu eingespielten Songs von CD 1 auch auf den sonstigen internationalen Pressungen in dieser Form enthalten sein dürften. Die eben getätigte Aussage „Songs der aktuellen Aktivitätsperiode“ muß übrigens geringfügig relativiert werden, denn in einem Fall greifen Anthem auf Material der ersten Phase zurück: „Venom Strike“ war der Opener des siebenten Albums Domestic Booty, also des erwähnten siebenten und letzten vor der zwischenzeitlichen Auflösung. Eine Neueinspielungsdoppelung ergibt sich hierdurch freilich nicht, denn dieser Song befand sich anno 2000 nicht unter den zehn, die für Heavy Metal Anthem neu aufs Band gebracht wurden. Interessanterweise bleibt allerdings auch Seven Hills, das 2001 erschienene erste Album der „neuen“ Anthem mit Neukompositionen, im Nucleus-Programm unberücksichtigt, und die Folge beginnt erst mit „Overload“ vom gleichnamigen 2002er Album. Bei der Auswahl haben es sich Anthem in der Folge teilweise ganz einfach gemacht und die Titeltracks der Alben bevorzugt herangezogen, zumindest solange es welche gab. Wir finden also „Eternal Warrior“ (2004), „Immortal Bind“ (2006 – der Quasi-Titeltrack, da das Album nur Immortal hieß) und auch „Black Empire“ (2008) vor, bevor das 2011er Heraldic Device nicht nur keinen Titeltrack (nicht mal einen Quasi-Titeltrack) hatte, sondern auch auf Nucleus komplett ausgespart blieb. Burning Oath (2012) und Absolute World (2014) trifft trotz Mangels an Titelsongs dieses Schicksal nicht – sie stellen je zwei andere Songs („Unbroken Sign“ enthält dabei die Worte „burning oath“ im Refrain, und in „Pain“ kommt tatsächlich das Wort „absolute“ vor, aber nicht in Kombination mit „world“), und bei Engraved (2017), dem bisher jüngsten neuen Studioalbum, ist die Lage wieder anders: Es hat einen Titeltrack, aber der wurde nicht neu eingespielt, sondern statt dessen „Linkage“. Da CD 1 summiert 13 Songs enthält, bemerkt der Zahlenkundige, dass in der bisherigen Schilderung noch drei Songs fehlen, und auch deren Verteilung ist wieder schön regelmäßig, indem die Alben von Eternal Warrior bis Black Empire außer ihren Titelsongs noch je einen anderen Song in den großen Pool werfen, der da gemäß des Albumtitels der Kern des neuzeitlichen Anthem-Schaffens sein soll.
Wie klingt dieser Kern nun? Wer die erste Aktivitätsphase der Band kennt, weiß, dass sich das Quartett weiland vom ungestümen, oft speedigen, aber stets melodisch bleibenden traditionellen Metal hin zu einer midtempolastigeren Variante entwickelt hatte, die nicht selten wie eine Übersetzung von Rainbow in Power Metal anmutete – die Verpflichtung von Graham Bonnet für die 2000er Neueinspielungen paßte diesbezüglich also wie die sprichwörtliche Faust aufs Auge. Von den seit 2000 erschienenen Alben besitzt der Rezensent bisher allerdings kein einziges und kann daher nicht en detail sagen, wie die Entwicklung weitergegangen ist, sondern lediglich die Fassungen auf Nucleus bewerten. Und da fällt eins auf: Wüßte man nicht, dass es sich um Neueinspielungen handelt, man könnte das Werk auch problemlos als neues Studioalbum durchgehen lassen und es auch als Nachfolger des Sechstlings No Smoke Without Fire deklarieren, der für viele europäische Metaller auf lange Zeit die letzte akustische Begegnung mit Anthem gewesen sein dürfte – Domestic Booty fand in Europa seinerzeit keinen Lizenznehmer mehr und war somit nur noch als Import erhältlich. Midtempolastig ist das Material von Nucleus definitiv, allerdings handelt es sich überwiegend um treibendes Midtempo – Drummer Tamaru, also der Jungspund der Besetzung, macht gewaltig Druck hinter den Kesseln, und auch Shimizus Riffing fällt sehr raumgreifend und energisch aus, ohne aber den melodischen Aspekt außer acht zu lassen. Unter den 13 Songs findet sich mit „Stranger“ nur eine einzige Speednummer, aber Anthem sind natürlich intelligent genug, das Material auf der CD trotzdem so geschickt anzuordnen, dass keine Langeweile aufgrund zu vieler zu ähnlicher Tracks aufkommt. Der „Rainbow auf Power Metal“-Touch ist immer noch da, wobei das Hauptaugenmerk klar auf den Gitarren liegt und Keyboarder Yusuke Takahama nur gelegentlich ins Geschehen eingreift und folgerichtig auch kein festes Bandmitglied ist, sondern nur Gaststatus besitzt. Trotzdem verleihen gerade die Keyboards der einen oder anderen Nummer noch den letzten Pfiff, etwa den orchestralen Anstrich von „Black Empire“ – so stark auch gleich der Opener „Immortal Bind“ oder „Venom Strike“ ihren massiven und zugleich treibenden Power Metal in Szene setzen, wäre ein ganzes Album von dieser Sorte fast zuviel des Guten, so dass die keyboardtechnische Abwechslung eine willkommene Zutat darstellt. Der Klassiktouch in Anthems Kompositionen ist nicht so stark ausgeprägt wie bei Rainbow, aber er ist da, und somit präsentieren sich die Japaner als Traditionalisten durch und durch – die verzerrten Vokaleinwürfe im Finale von „Awake“ sind ein einmalig bleibendes Stilmittel. Das Gros der Songs dauert kompakte vier bis fünf Minuten, mit knapp acht fällt lediglich das Epos „Ghost In The Flame“ aus dem Rahmen, das auf Nucleus nicht am Ende steht, wo man es regulär erwarten würde, sondern an Position 7, also genau in der Mitte – auf Burning Oath hatte es auch diese Tracknummer, allerdings nicht die Zentralposition, denn auf diesem Album standen nur elf statt dreizehn Songs. Auch das Instrumental „Omega Man“ sorgt auf Nucleus für Abwechslung, und der Rezensent überlegt hin und her, an welchen Song ihn die Einleitung von „Pain“ erinnert – eingefallen ist es ihm bisher noch nicht.
Spannende Frage ist zudem, wie sich Morikawa schlägt. Die Antwort fällt widersprüchlich aus: Der Sänger ist zwar das schwächste Glied in der aktuellen Anthem-Kette, macht sein Ding aber zumindest in den Studiofassungen nicht schlecht. Er verlegt sich auf einen etwas angerauhten halbhohen Stil, dem Bonnets gar nicht mal so unähnlich, aber treffsicherer und eleganter als dieser, und wenn man sich einmal daran gewöhnt hat, kann man daran durchaus Gefallen finden, wenngleich prinzipiell natürlich klar ist, dass das biologische Alter auch auf Morikawas Stimmbändern seine Spuren hinterlassen hat. Hier und da assistiert jemand mit Backing Vocals, aber das Booklet verrät nicht, wer das tut – derjenige macht seine Sache indes gleichfalls gut und liefert im richtigen Moment eine klangliche Stütze oder auch Ergänzung. Natürlich kann der Rezensent die Nucleus-Fassungen nicht mit den Originalen vergleichen, da er selbige wie erwähnt nicht besitzt, aber die Umdisponierung auf die „neue“ Stimme – die meisten der Originale hatte ja Sakamoto eingesungen – scheint keine existentiellen Probleme hervorgerufen zu haben. Aber da gibt es noch einen anderen markanten Unterschied: Die Lyrics der Neueinspielungen sind komplett in Englisch gehalten, und obwohl man Morikawa deutlich anhört, dass das nicht seine Muttersprache ist, ist das für das Mitsingpotential der nichtjapanischen Anhänger natürlich nicht ganz unnütz.
Die zweite Scheibe macht Nucleus zur Herausforderung für die Sammler, da bei der japanischen Pressung von Ward Records etwas ganz anderes drauf ist als bei der australischen Pressung von Golden Robot Records – und die Europaversion von Nuclear Blast kommt wieder komplett anders daher. Hier ist der zweite Silberling eine Audio-CD mit einem partiellen Konzertmitschnitt vom 7.7.2018 aus dem Club Citta. Anthem hatten das 30jährige Veröffentlichungsjubiläum ihres Album-Viertlings Gypsy Ways zum Anlaß genommen, dessen zehn Songs komplett live aufzuführen, und das geschah in ebenjenem Konzert – allerdings scheinbar nicht am Stück, denn hier und da hört man auf der CD-Version Ausblendungen zwischen den Tracks, so dass die Vermutung naheliegt, dass zwischen die Gypsy Ways-Songs noch andere eingestreut wurden, wobei zumindest der eröffnende Titeltrack aber tatsächlich auch als erster der zehn gespielt worden sein dürfte, denn hier macht Morikawa eine entsprechende Ansage, die von den Anwesenden auch mit entsprechendem Jubel beantwortet wird. Das Album war 1988 das erste nach dem Sängerwechsel, aber es ist eines der drei aus der ersten Aktivitätsperiode Anthems, das nicht im Tonträgerbestand des Rezensenten vorhanden ist, so dass Direktvergleiche hier abermals nicht möglich sind – und in Englisch gehalten waren die Lyrics schon damals. Da das Quartett nur einen Gitarristen besitzt, klingen die Soloparts live natürlich anders als auf Platte, aber Shibatas Baß ist recht markant abgemischt und erledigt die Aufgabe, keine Soundlöcher zuzulassen, ohne Probleme. Das Songmaterial fällt genau in die Mitte der erwähnten „Entschleunigungsphase“, aber der Speed war durchaus noch nicht komplett verschwunden, wie der alles wegfegende Doublebassknaller „Cryin‘ Heart“ deutlich macht. Wer hier alles wegfegt, ist übrigens kein Geringerer als Ur-Drummer Ohuchi, der sich für diesen Song und die beiden folgenden „Silent Child“ und „Midnight Sun“ als Gast hinters Schlagzeug klemmte und beweist, dass er sich offenbar gut fit gehalten hat. Shimizu, der auf dem Studioalbum noch nicht dabei war, zeigt, dass er das Material problemlos verinnerlicht hat, und so bleibt als große Frage wieder mal, wie sich Morikawa schlägt. Die Antwort fällt derjenigen auf dem Studioalbum sehr ähnlich aus: Er tut, was er kann, und das ist nicht wenig, wenngleich weniger als das, was die Instrumentalisten zum Gelingen des Projektes beizusteuern in der Lage sind. Geht die Gesangslinie in die Höhe, sinkt die Treffsicherheit durchaus etwas ab, und auch lang ausgehaltene Töne versucht der Sänger bisweilen eher zu vermeiden – im Direktvergleich mit dem, was man von diversen Altersgenossen zu hören bekommt, schlägt sich Morikawa allerdings immer noch sehr achtbar, wenngleich man mit einer gewissen erhöhten Grundrauhigkeit in den Livesongs zurechtkommen muß, will man die Aufnahmen schätzen. Das gilt übrigens auch für den instrumentalen Teil: Anthem hatten offenbar keinen Livekeyboarder am Start und verzichten mit Ausnahme des Intros von „Silent Child“ auch auf Samples, so dass man hier tatsächlich nur die vier hart Arbeitenden auf der Bühne hört, wobei auch hier jemand gekonnt Backingvocals singt und man nach entsprechender Aufforderung des Fronters auch das Publikum gelegentlich mit „Hey-hey“- und ähnlichen Anfeuerungsrufen hört. Im Direktvergleich mit den Neueinspielungen sind sowohl Gitarre als auch Drums nicht so dominant abgemischt, der Baß dafür lauter, was ein anderes, aber durchaus ebenbürtig bewertbares Klangbild ergibt. Und Spielfreude bringen die vier Japaner auch jede Menge auf die Bühne, ob nun im anderen Speedie „Final Risk“ oder in den zahlreichen Midtempotracks unterschiedlicher Ausprägung. Das an Monster Magnet erinnernde Flackern in den Gitarren im Intro des finalen „Night Stalker“ stellt den einzigen „modernen“ Baustein der 48 Minuten dar, so dass das Herz des Traditionsmetalliebhabers auch auf CD 2 nicht an Rhythmusstörungen leiden muß: Anthem sind musikalisch Kinder der Achtziger, und das zeigen sie auch mit Stolz, wobei gerade das Soundgewand der Neueinspielungen demonstriert, dass sie nicht von gestern sein wollen – und das schaffen sie auch. So stellt Nucleus eine willkommene Chance für europäische Metaller dar, eine der wichtigsten japanischen Metalbands neu oder wieder für sich zu entdecken.
Roland Ludwig
Trackliste
1. Immortal Bind (04:31)
2. Black Empire (04:50)
3. Overload (04:24)
4. Stranger (04:17)
5. Linkage (04:51)
6. Eternal Warrior (05:05)
7. Ghost In The Flame (07:58)
8. Venom Strike (04:47)
9. Awake (04:53)
10. Omega Man (04:06)
11. Pain (04:16)
12. Echoes In The Dark (05:09)
13. Unbroken Sign (04:18)
CD 2: Worst Habits Die Hard - Gypsy Ways 30th Anniversary Special
1. Gypsy Ways (05:47)
2. Love In Vain (04:45)
3. Bad Habits Die Hard (04:46)
4. Legal Killing (04:35)
5. Cryin‘ Heart (05:20)
6. Silent Child (04:32)
7. Midnight Sun (04:53)
8. Shout It Out! (04:25)
9. Final Risk (03:59)
10. Night Stalker (05:08)
Besetzung
Akio Shimizu (Git)
Naoto Shibata (B)
Isamu Tamaru (Dr)
Takamasa „Mad“ Ohuchi (Dr, CD 2, 5-7)
So bewerten wir:
00 bis 05 | Nicht empfehlenswert |
06 bis 10 | Mit (großen) Einschränkungen empfehlenswert |
11 bis 15 | (Hauptsächlich für Fans) empfehlenswert |
16 bis 18 | Sehr empfehlenswert |
19 bis 20 | Überflieger |