Reviews
Tin Machine II
Info
Musikrichtung:
Rock
VÖ: 17.7.2020 (2.9.1991) (Music on CD) Gesamtspielzeit: 49:13 Internet: http://www.davidbowie.com |
In den späten Achtzigern war die Solokarriere von David Bowie etwas ins Stocken geraten, und der wandlungsfähige Künstler spürte, dass sich etwas ändern müsse. Der Fama nach lernte er den Gitarristen Reeves Gabrels trotzdem nicht geplant oder in dessen Eigenschaft als Musiker kennen, sondern privat, weil dessen damalige Partnerin in die Promoarbeit für eine US-Tour Bowies involviert war. Erst nach geraumer Zeit fiel der Groschen, und beide arrangierten zunächst eine Neufassung des Bowie-Songs „Look Back In Anger“ für ein Tanzprojekt und begannen dann gemeinsam an Songideen zu arbeiten. Als sie überlegten, wen sie als Rhythmusgruppe hinzuziehen sollten, fielen Bowie die Sales-Brüder ein – Bassist Tony und Drummer Hunt hatten in den späten Siebzigern während Bowies Berlin-Phase schon mal mit ihm auf dem Iggy-Pop-Album Lust For Life gespielt und waren auch gemeinsam auf Tour gewesen. Da die Quartettchemie sich als ausgesprochen gut funktionierend entpuppte, beschlossen die vier, eine offizielle Band zu gründen, der sie nach langwieriger Ideensuche den Namen eines ihrer Songs gaben. Ergo waren Tin Machine geboren, und Bowie war es wichtig, dass er hier nur einer von vier gleichberechtigten Musikern und nicht etwa der Bandkopf oder gar ein verkappter Solokünstler mit Alibi-Band ist, was letztlich dazu führte, dass er sich entschloß, zum 1989 erschienenen Debütalbum keinerlei Interviews im Alleingang zu geben, sondern immer einen der anderen Musiker dabeizuhaben, die ihrerseits auch ohne ihn Teile der Interviewarbeit übernahmen. Selbiges Album blieb kurzerhand selbstbetitelt, auf dem Cover stand Bowie (neuerdings mit Vollbart) von den vier Musikern am weitesten hinten, und doch konnte einiges an Aufmerksamkeit erzielt werden, und das Album verkaufte sich ziemlich gut, fand als eine der ersten CDs auch in die Sammlung des Damals-noch-nicht-Rezensenten (das müßte 1992 oder spätestens 1993 gewesen sein – im Gegensatz zu Norbert gibt es hier nicht so ein schönes ordentliches System, das die konkreten Kaufdaten und –orte zusammenfaßt, aber wenigstens der Kaufort blieb auch so im Gedächtnis: Es war eine Bestellung beim Disc-Center in Weikersheim) und auch durchaus nicht selten den Weg in den CD-Player. Zu diesem Zeitpunkt hatten Tin Machine längst ihr zweites Album vorgelegt und sich nach der zugehörigen Tour allerdings auch schon wieder aufgelöst, da die Bandchemie mittlerweile deutlich problematischer geworden war und Bowie wieder Lust auf Soloarbeit bekommen hatte. Posthum erschien 1992 noch ein Livealbum namens Oy Vey, Baby mit Aufnahmen von der Tour zum zweiten Album, und dabei blieb es, bis 2019 auch ein im La Cagale in Paris getätigter Mitschnitt der Tour zum ersten Album als Digital-Only-Release veröffentlicht wurde und 2020 nun ein Re-Release des kurzerhand Tin Machine II getauften Albumzweitlings vorliegt, außer als Silberling übrigens auch in Vinylform. Gemäß Backcover hat das in den Niederlanden ansässige, auf Re-Releases spezialisierte Label Music On CD die Rechte vom seinerzeitigen japanischen Label Victor Entertainment erworben – Victory Records, bei denen seinerzeit die Euro- und Amerika-Pressungen erschienen waren, hatten nicht allzulange nach Erscheinen des Albums ihren Laden dichtgemacht, so dass sich der Zweitling längst nicht so gut verkauft haben soll wie das Debüt, und die Rechtsnachfolgelage könnte da durchaus etwas unübersichtlich gewesen sein, abgesehen davon, dass Bowies Erben dem Re-Release zumindest positiv gegenüberstehen müssen, denn sie haben ihn offiziell angekündigt, während weder der zwischenzeitlich bei The Cure gelandete Gabrels noch Produzent Tim Palmer in die Planungen eingebunden gewesen zu sein scheinen.
Tin Machine II fand weiland nicht den Weg in den CD-Bestand des Rezensenten, obwohl er sich erinnern kann, damals sogar ein Review der Scheibe in der BRAVO (!) gelesen zu haben, und die Coverabbildung war auch dabei. Das war durchaus nicht selbstverständlich, denn die besteht aus vier identischen Bildern des Kroisos Kouros, also einer nackten griechischen Jünglingsstatue, und dieses Cover kam wegen der offen sichtbaren Genitalien in den USA nicht durch die Zensur und mußte in den fraglichen Zonen mittels eines Airbrush-Effektes „entschärft“ werden, während die kanadische Pressung ebenso wie die europäischen das unveränderte Cover aufwies. Ebendas gilt auch für den jetzt vorliegenden Re-Release, und für selbigen scheint der Original-Release 1:1 kopiert worden zu sein: Es gibt exakt die zwölf Songs von damals, auch das Booklet scheint identisch zu sein, Liner Notes oder Bonustracks sucht man vergeblich. Heißt praktisch: Wer das Album damals vor dem Verschwinden des Labels noch gekauft hat, muß kein zweites Mal zugreifen – alle, die damals zu spät gekommen waren, können aber jetzt eine Sammlungslücke schließen.
Die Frage ist nun natürlich, ob sich das lohnt. Zu beantworten ist sie mit einem klaren Jein. Das Debüt hatte mit Vielschichtigkeit und Spritzigkeit überzeugen können – auch wenn nicht alle Songs hoch zu punkten wußten, so bereitete schon der Opener „Heaven’s In Here“ mit seinem locker swingenden Rhythmus, der aber immer wieder von hochdramatischen, teils auch leicht psychedelisch angehauchten Passagen unterbrochen wurde, dem Hörer eine angenehme Überraschung, von denen es etwa mit dem knochentrocken und flott rockenden Bandnamensgeber oder dem positiv gestimmten Proto-Grunge von „Crack City“ (nein, die Beschreibung ist kein Oxymoron, und wie hier Anklänge an Black Sabbaths „Iron Man“ musikalisch in eine positive Stimmung gewandelt wurden, muß man selber anhören, um es zu verstehen) noch etliche weitere gab. Man war von David Bowie ja schon einiges gewohnt, und die Stimme blieb trotz diverser Experimente auch deutlich erkennbar, aber so etwas werden wohl die wenigsten vermutet haben. Nun, auf dem Zweitling ist der prinzipielle Überraschungsfaktor natürlich erstmal verschwunden und einer gewissen Erwartungshaltung gewichen – und diese erfüllt die Band nur bedingt: Die Vielschichtigkeit ist zumindest in gewissem Rahmen immer noch da und wird sogar durch einige neue Elemente bereichert, aber die Spritzigkeit nimmt einen deutlich niedrigeren Wert an als auf dem Debütalbum und ist einer gewissen Routine gewichen, einhergehend mit einer deutlichen Reduzierung der Hochtempopassagen, die es in größerem Umfang nur noch in „One Shot“ gibt – und dann nochmal im Hidden Track „Hammerhead“, der als einminütiges instrumentales Exzerpt noch mit hinten am Closer „Goodbye Mr. Ed“ hängt und in seiner Vollversion nur als Single-B-Seite Verwendung gefunden hatte. Natürlich war auch das Debüt keine Speedplatte gewesen, aber das Quartett hatte es fertiggebracht, genau in den richtigen Momenten die Schlagzahl nach oben zu schrauben, was dann in zwei Fällen auch mal kurze, nur bzw. nicht mal zweiminütige Nummern ergab, und das „Hammerhead“-Exzerpt ist ebensowenig ein Ersatz dafür wie das zwar phasenweise für Tin-Machine-Verhältnisse recht heftig knüppelnde, aber irgendwie nervös wirkende „A Big Hurt“.
Auf der anderen Energieseite gibt es mit „Amlapura“ einen Neuzugang im Spektrum von Tin Machine: Das Debüt war balladenfreie Zone gewesen, hier gibt es an Position 5 also den ersten Versuch, der nicht übel ausfällt, aber in der ersten härteren Passage durch das viel zu nervös-hektische Drumming viel an Wirkung einbüßt. Da weiß der zweite Genrebeitrag „Sorry“ mehr zu überzeugen, ebenso wie so manches der weiteren Experimente: der Bluesrocker „Stateside“ etwa, mit reichlich fünfeinhalb Minuten die längste Nummer der Scheibe, alles andere als trauerklößig und als einer von mehreren Songs der CD (u.a. auch das erwähnte „Sorry“) von Bowie höchstselbst mit Saxophonklängen bereichert (ein Back-to-the-roots-Element: Dieses Instrument spielte er schon als Fünfzehnjähriger in seiner allerersten Band), oder auch die Singleauskopplung „You Belong In Rock N‘ Roll“, die ein wenig an manches von dem erinnert, was Ärzte-Drummer Bela B. Jahre später auf seinen Soloplatten unterbrachte und ein gutes Beispiel für Bowies wandlungsfähige Stimme abgibt. Dazwischen findet sich allerdings auch einiges an Füllmaterial, wobei freilich nicht auszuschließen ist, dass die eine oder andere Nummer doch noch zündet, wenn Tin Machine II es irgendwie schaffen sollte, eine ähnliche Durchlaufzahl zu erreichen wie das Debüt, das auch einige Zeit brauchte, bis sich seine Reize offenbarten. Auf gleichem Level sind die Coverversionen der beiden Scheiben anzusiedeln – hatte man sich 1989 John Lennons „Working Class Hero“ vom selbstbetitelten Debüt der Plastic Ono Band vorgenommen, ist nun „If There Is Something“ von Roxy Music dran, in einen recht druckvollen, ganz leicht angebluesten Rocksong Marke Tin Machine verwandelt zu werden. Schrägerweise ist letztere Einspielung älter als das Lennon-Cover und stammt noch von einer frühen Demoaufnahme aus Zeiten vor dem Debütalbum, wurde aber erst für den Zweitling berücksichtigt.
So bleibt nach den knapp 50 Minuten das erwähnte unschlüssige Fazit. Wem das Debüt einen Tick zu experimentell war, der könnte den Zweitling vielleicht sogar höher einschätzen, sofern er mit der Neuzutat Saxophon und dem hier und da recht hektischen Drumming von Hunt Sales klarkommt – vielleicht drehte der Schlagwerker hier schon am Drogenrad, das dann wenig später zum Scheitern der Band beitrug. Andererseits könnte gerade dieses Element auch zum Unkonventionellen beitragen, das ansonsten wie erwähnt auf dem Album nicht ganz so stark ausgeprägt ist wie auf dem Debüt, wo auch der psychedelische Faktor etwas höher ausgefallen war. Und der Drummer agiert in „Stateside“ und „Sorry“ sogar als Leadsänger – und das sind wie erwähnt zwei der Highlights von Tin Machine II. Aber wie auch immer: In eine Bowie-Sammlung gehören natürlich beide Scheiben ohne Wenn und Aber, und bei der nach fast 30 Jahren nun wieder erhältlichen Zweiten sollte man sich vielleicht beeilen, ehe sie möglicherweise abermals vom Markt verschwindet.
Roland Ludwig
Trackliste
1 | Baby Universal | 3:18 |
2 | One Shot | 5:11 |
3 | You Belong In Rock N‘ Roll | 4:07 |
4 | If There Is Something | 4:45 |
5 | Amlapura | 3:46 |
6 | Betty Wrong | 3:48 |
7 | You Can‘t Talk | 3:09 |
8 | Stateside | 5:38 |
9 | Shopping For Girls | 3:44 |
10 | A Big Hurt | 3:40 |
11 | Sorry | 3:29 |
12 | Goodbye Mr. Ed/Hammerhead (instrumental) | 4:21 |
Besetzung
Reeves Gabrels (Git)
Tony Sales (B)
Hunt Sales (Dr)
So bewerten wir:
00 bis 05 | Nicht empfehlenswert |
06 bis 10 | Mit (großen) Einschränkungen empfehlenswert |
11 bis 15 | (Hauptsächlich für Fans) empfehlenswert |
16 bis 18 | Sehr empfehlenswert |
19 bis 20 | Überflieger |