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Reviews

Gesualdo, C. (Schmelzer, B.)

Tenebrae


Info

Musikrichtung: Renaissance Vokal

VÖ: 03.04.2020

(Glossa / Note 1 / 3 CD / DDD / 2019 / Best. Nr. GCD P32116)

Gesamtspielzeit: 194:19

Internet:

JPC

SEELISCHE GÄRUNGSPROZESSE

Don Carlo Gesualdo (1566-1613), der als Fürst von Venosa dem unstandesgemäßen Komponistenhandwerk frönte, findet im belgischen Ensemble Graindelavoix einen kongenialen zeitgenössischen Übersetzer für seine überaus kühne harmonische Schmerzensrhetorik. Der Höhepunkt seines Schaffens sind neben dem 5. und 6. Madrigalbuch die Responsorien für das Stundengebet während der Kartage - und diesen Zyklus präsentiert das Ensemble unter der Leitung von Björn Schmelzer zusammen mit einigen anderen späten geistlichen Werken wie dem "Miserere".

Gesualdos überreife Chromatik wirkt wie ein Vorgriff auf das 20. Jahrhundert, wie eine Phantasmagorie, die Richard Strauß unter Drogeneinfluss komponiert haben könnte. Dieser Ausdrucks-Extremismus, der in der Form archaisch anmutender fünfstimmiger Madrigale daherkommt, hat durch die Jahrhunderte fasziniert, irritiert, auch abgestoßen – zumal sich um Gesualdo allerlei Legenden rankten, die eine psychopathologische Disposition nahelegten. Hatte er nicht seine Gattin, als er sie in Flagranti erwischte, brutal ermordet und ihren Liebhaber gleich mit? Was lag näher, als in den Responsorien so etwas wie eine Art akustische Selbstgeißelung zu sehen? Diese regelwidrige Musik konnte nur einer zerrissenen Seele, vielleicht sogar einem gestörten Geist entsprungen sein.

Heute fällt es leichter, die harmonischen Zuspitzungen im Tonsatz nach ihren eigenen Gesetzen zu hören und die leidenschaftliche Intensität der Musik in ihrer unheimlichen Schönheit zu genießen. Zumal Gesualdo kein Einzelfall war, sondern Teil einer Bewegung, die die antike Chromatik für die Musik zurückgewinnen wollte – in diesem Sinne war er ein Kind der späten Renaissance.

Was diese neue monumentale Wiedergabe der Tenebrae-Responsorien angeht, wird man freilich mit einem doppelten Manierismus konfrontiert: Die Wiedergabe setzt Graindelavoix-typisch auf eine reiche Entfaltung vokaler Klangfarben, auf mikrotonale Ornamente, gutturale Schattierungen, individuelle Timbres. Die dichte Harmonik wird zusätzlich mit Klangsubstanz aufgeladen, inkarniert sich sozusagen mit einer geradezu barocken Körperlichkeit. Dabei sollte man nicht fragen, ob die mediterran-orientalischen Manieren, mit denen die Sänger*innen Gesualdos Polyphonie kolorieren, „authentisch“ im Sinne der historischen Aufführungspraxis sind. Seit seiner Gründung hat Graindelavoix in 18 Aufnahmen einen ganz eigenen, fleischlich-spirituellen Klang kultiviert und sich quellen- und erfahrungsgestützt ein immer größeres Repertoire erschlossen. Das klingt so ganz anders als das, was man gemeinhin bei Renaissance-Musik zu hören bekommt. In jedem Fall geht es unter die Haut.

Freilich verlagert sich die Perspektive von einer "Rhetorik der Harmonik", bei der der liturgische Text durchaus nachvollziehbar zur Darstellung kommt, hin zu einer Klangfarben-Illumination, bei der die lateinischen Worte, die Lautungen eher Klangmaterial sind.
Bedeutungen entfalten sich stärker als bei Vergleichseinspielungen als Stimmungen, interessanterweise wirkt mancher Höhepunkt, z. B. die erschütternden Deus-meus-Schreie Jesu am Kreuz (5. Responsorium am Karfreitag), harmonisch relativ weich. Die gewichtigen Tempi tun das ihre, um die einzelnen Stücke in eine Art psychedelisches Labyrinth aus Licht und Schatten zu verwandeln, in das der Hörer hineingezogen wird. Lauschend gerät man in eigentümliche seelische Gärungszustände. Gut, dass gregorianische Antiphonen zwischen die ausladenden Responsorien gesetzt wurden - obwohl auch hier orientalisierende Melismen eingeflochten wurden, sorgen diese einstimmigen Gesänge für die nötigen Ruhezonen im Rausch der Klangfarben. Dass das Ensemble freilich auch zurückhaltend musizieren kann, zeigt das schlichter gehaltene "Miserere".

Für eine texttreuere rhetorisch-harmonisch "schärfere" Lesart des Zyklus steht etwa das Hilliard Ensemble, dessen Aufnahme von 1991 immer noch maßstabsetzend für diesen Ansatz ist. Aber Gesualdos Einwurzelung in die hoch- und volksmusikalischen Traditionen, in die abendländisch-orientalische Klanggeschichte und ihre verschiedenen Klangschichten, das kann man bei Graindelavoix in Vollendung erleben – auch in einer aufnahmetechnischen Meisterleistung, die in der raumgreifenden Kirchenakustik jede Stimme für sich und zugleich mit dem Ganzen verbunden abbildet. Gesualdos Klänge dürfen sich in all ihrer düsteren Grandeur entfalten.



Georg Henkel

Trackliste

CD 1 Responsorien für Gründonnerstag 71:21
CD 2 Responsorien für Karfreitag 62:58
CD 3 Responsorien für Karsamstag 60:00

Besetzung

Graindelavoix

Björn Schmelzer, Leitung
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