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Reviews

Ravel, M. – Mussorgsky, M. (Roth, F. X.)

Bilder einer Ausstellung – La Valse


Info

Musikrichtung: Impressionismus Orchester

VÖ: 30.04.2020

(Harmonia Mundi / Pias / CD / DDD / 2019 / Best. Nr. HMM 905282)

Gesamtspielzeit: 44:15

Internet:

JPC

IM RAUSCH DER KLANGBILDER

Modest Mussorgskys famoser Klavierzyklus „Bilder einer Ausstellung“ ist schon in der ursprünglichen Klavierfassung von einer derart fantasieanregenden Prägnanz, das man fast von einer archetypischen Programmmusik sprechen möchte. Wer den wilden „Gnom“, das stimmungvolle „Alte Schloss“, das possierliche „Kükenballett“, die unheimliche „Hütte der Baba-Yaga“ oder das prachtvolle „Große Tor von Kiew“ gehört hat, der bekommt die inneren Hör-Bilder wohl kaum mehr aus seinen Ohren bzw. seinem Kopf.
Dabei beruht der Ruhm von Mussorgskys Klavierstücken ganz wesentlich auf den späteren Orchestrierungen, von denen wiederum diejenige von Maurice Ravel aus dem Jahr 1922 die berühmteste ist. Auf Mussorgskys bildmächtigen Vorlagen antwortete Ravel mit einer nicht weniger plastischen klangfarblichen Fassung: eine Kolorierung, die auf ihre Weise nicht minder suggestiv, ja mustergültig ist und ihren festen Platz im Repertoire behauptet. Ravels Version ist jetzt unter der Leitung von François-Xavier Roth und seinem Orchester „Les Siècles“ neu zu entdecken – nämlich auf der Basis jüngster quellenkritischer Forschungen und auf Instrumenten der Entstehungszeit.

Der Vorzug der alten Instrumente offenbart sich aufs Neue: Die etwas körnigere Klangtextur erzeugt keine glatten Farbmischungen. Vielmehr bleiben ähnlich wie bei einem Gemälde die Spuren des Farbauftrags und der Pinselführungen erkennbar. Das vertieft das musikalische Relief und lässt einen die Schönheiten von Ravels Eingebungen neu entdecken. Der Klang ist durchgängig von einer inneren Lebendigkeit und Differenziertheit, wie man sie bei den „glatteren“ und „perfekteren“ jüngeren Instrumenten selten findet. Die darmbesaiteten Streicher klingen feiner und decken die charakteristisch timbrierten Holzbläser nicht zu; das Blech hat Kraft, wirkt aber nicht brachial. Die unsauberen Legierungen der Metallschlaginstrumente sorgt für feine Schattierungen. So hört man hier nicht das Plakative und auch Grelle, das sich bei den brillanten Passagen auf „modernen Instrumenten“ manchmal vordergründig einstellt, alles atmet auch im vollen Tutti-Klangbild eine gewisse Leichtigkeit und Eleganz. Mag sein, dass dies auch ein typisch „französisches Klangideal“ ist. Aber zu dieser Feinabstimmung kommt eben auch eine atmosphärische Qualität und ein präzises Timing, ein Gespür für die dramatischen und dunklen Momente beim „Gnom“ oder den römischen Katakomben oder die sorgsam abgestimmte orchestrale Strahlkraft beim finalen Stadttor von Kiew.

Die genannten Vorzüge verfehlen ihre Wirkung auch nicht bei Ravels eigener Orchesterkomposition „La Valse“, einem Ballettstück, das den Walzerseligkeiten eines Johann Strauß ein gespenstisch-fantastisches Monument setzt und zugleich die Traumata des 1. Weltkrieges Revue passieren lässt. Vom unheimlichen Beginn, bei dem sich die untoten Tänzer in den Galauniformen und Ballkleidern der guten alten Zeit aus ihrer Gruft zu erheben scheinen, bis hin zum grandios gesteigerten Irrsinn des Finales, bei dem buchstäblich die Fetzen fliegen, gelingt den Musikern ein bestürzend eindringliche Wiedergabe. Da wird getanzt und gefeiert bis zum Untergang, wohlwissend, dass diese Musik schwelgerisch und faulig, glanzvoll und dekadent zugleich klingen muss.
Bei diesem Totentanz reicht Ravel unüberhörbar seinem großen Wiener Kollegen Gustav Mahler die Hand (mit dessen Musik Les Siècles ebenfalls vertraut ist) – und liefert uns ein akustisches Pendant zu den giftig-bösen Karikaturen eines George Grosz. Das ist auch so eine Bilder-Musik, die den Hörer nicht loslässt. Dass auf dieses letzte Stück des insgesamt recht kurzen Programms nichts mehr folgt, ist da irgendwie konsequent.



Georg Henkel

Besetzung

Les Siècles

François-Xavier Roth, Leitung
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