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Florenz 1350. Ein mittelalterlicher Florentiner Garten
Info
Musikrichtung:
Mittelatler Ensemble
VÖ: 03.04.2020 (Ambronay / Outhere Music / CD / DDD / 2019 / Best. Nr. AMY005) Gesamtspielzeit: 57:21 Internet: JPC |
MITTELALTERLICHER FLORENTINER LUSTGARTEN
Die Seuche als kurzfristiger Killer und langfristiger Zivilisationsmotor - so lässt sich, etwas zugespitzt, die Wirkung der großen Pest auf den Punkt bringen, die von 1347-1353 Europa heimsuchte. In einer Stadt wie Florenz starben 1348 vier Fünftel aller Einwohner; Giovanni Boccaccio schildert in der Rahmenerzählung seiner epochalen Novellensammlung "Decameron" den weitgehenden Zusammenbruch des Sozialwesens der Stadt, den Verlust an Humanität, die unablässigen Leichenzüge. Umso erstaunlicher, wie schnell sich dieses Gemeinwesen erholte und eine kulturelle Blütezeit begann, in der der die Wissenschaft, die Bildung, die Wirtschaft und die Künste einen allgemeinen Aufschwung nahmen.
Mit ihrem neuen Programm "Florenz 1350. Ein mittelalterlicher Florentiner Garten" führt das junge "Sollazzo Ensemble", das von der Fidelspielerin Anna Danilevskaia geleitet wird, hinein in diese Epoche - mit einer Sammlung von Ensemble- und Solostücken für Stimmen und Instrumente, die über die Dauer von knapp einer Stunde die Ohren ergötzen - betörende Schönheit im Angesicht der Pest-Katastrophe: Man mag gerne glauben, dass sich Boccaccios Landgesellschaft aus "Pestgeflüchteten" die Quarantäne mit solchen Klängen versüßt hat ...
Doch zurück zum Sollazzo Ensemble: Bereits mit ihrer ersten Aufnahme "Pare qui veut" mit moralisierenden und satirischen Liedern des hohen Mittelalters hatten sich die damals noch ganz frischen Absolventen u. a. der Schola Cantorum Basilensis, dem ESMUC in Barcelona oder dem CNSM in Paris und Lyon an die Interpretenspitze katapultiert und zahlreiche Auszeichnungen eingeheimst.
Der italienische Ensemblename, der zu Deutsch etwa "Amüsement" oder "Vergnügen" bedeutet, wurde gleich beim ersten Album unüberhörbar Programm. Mit Aufnahmen von Stücken aus dem jüngst entdeckten "Leuven Chansonnier" oder dem Konzeptalbum "En seumeillant" über Träme und Visionen im Mittelalter setzte sich dies fort: Wie lebendig diese oft sehr artifizielle Musik klingen konnte, wie sinnlich, ausdrucksvoll, atmosphärisch!
Während die ältere Interpreten-Generation zunächst Pionierarbeit leistete und auf eine gewisse Objektivität bedacht war, lassen es die Sollazzos entspannter angehen und erforschen vor allem die noch nicht ausgeschöpften expressiven und virtuosen Möglichkeiten - und dies ohne die aktuell in der Alten Musik beliebten Extremisierungen, ohne interessante "Zusatzstoffe". Den alten Meisterwerken fehlt es an nichts, wenn sie ernst genommen werden.
Die hier versammelten italienischen Meister wie Paolo da Firenze, Donato di Firenze, Giovanni da Firenze oder Francesco Landini haben die konstruktiven Kunstkniffe ihrer nördlichen Kollegen aufgegriffen und sich mit italienischem Klangsinn angeeignet. Eine köstliche Alchemie: Die konstruktivistische mittelalterliche Avantgarde wandelt sich bei ihnen zu sinnlich funkelnden Juwelen. Dabei ist die Musik dieser Zeit eher höhenbetont und kann ziemlich esoterisch klingen, wenn sie nur mit Sopranstimmen besetzt wird - rasch macht sich dann auch eine gewisse Eintönigkeit breit. Zum Glück gibt es viele gestalterische Möglichkeiten, da die Stücke sozusagen modular gebaut sind und Raum für Improvisationen lassen.
Vor allem im Vokalen dürfen die ausgewählten Stücke beim Sollazzo Ensemble auf eine bisher unerhörte Weise erblühen. Die Timbres von Perrine Devillers, Yukie Sato, Andrew Hallock und Vivien Simon sind einzeln wie im Verbund von einer betörenden Beweglichkeit, Präzision, Strahlkraft und Nuanciertheit. Gleich zu Beginn meistern sie die vertrackten rhythmischen Interaktionen und Tempowechsel des eröffnenden "Godi Firenze" ebenso elegant wie zielgerichtet; hier oder auch in einem anonym überlieferten "Benedicamus domino" entsteht ein belkantisch-konzertanter Schwung, um nicht zu sagen "Swing", der die mitunter hochkomplexe Musik ganz natürlich tanzen lässt. Kunst ohne Künstlichkeit.
Atemberaubend auch das finale "A poste messe" von Lorenzo da Firenze, eine wie ein Schwarm zwitschernder Vögel dahinwirbelnde vokale und polyphone Tour de Force aus Stimmen und Instrumenten mit pulsierenden "Beats" und ohrenkitzelnden dissonanten Harmonien. Ganz anders hingegen die Jagdszene, die Giovanni di Firenze in "Per larthi prati, caccia" inszeniert: Zunächst malt er in Kanonspielereien die dahineilende Jagdgesellschaft, die sich in eine dunkle Höhle verirrt - und die Musik verlangsamt sich an dieser Stelle immer mehr, löst sich in kleine Tongruppen und Punkte auf, die im Piano- und Pianissimo-Dämmerlicht herumirren, bis sich die Musik buchstäblich in die Stille hinein verliert. Ein magischer Moment, von den Sollazzos mit flötenartig ausgedünnten Vokalklängen geradezu psychedelisch gestaltet, so dass man den Atem anhält - ein frappierend moderner Klangeindruck.
Die vokalen Soli sind nicht minder einprägsam, sowohl musikalisch, mit ihren häufig herrlich weit ausgreifenden Melodiebögen und feinziselierten Umspielungen und Ornamenten, wie auch im Hinblick auf ihre Ausdrucksvielfalt. Das "Ay schonsolato", eine Liebesklage von Vincenzo da Rimini, oder das schmachtende "Adiou adiou" von Landini singt Vivien Simon mit einer fast schon barocken rhetorischen Intensität und macht so die neue Diesseitigkeit, die das mittelalterliche Leben nach der großen Pest prägte, erfahrbar: Hier geht es um etwas, die auf dem Papier oft so ertüfftelt wirkenden kompositorischen Verfahren sind kein Selbstzweck, sondern Ausdrucksmittel!
Sehr schön ergänzen sich die unterschiedlichen Soprantimbres von Perrine Devillers und Yukie Sato, die ebenfalls angemessen körperlich-sinnlich klingen. Zu den Sängern gesellen sich Fideln, Laute, Organetto, Psalter, die in pikanten oder herbsüßen Kombinationen auch instrumentale Versionen diverser Vokalstücke beisteuern - keine "Begleitung", sondern gleichberechtigte Mitakteure im vielstimmigen Konzert.
Man kann nur hoffen, dass die aktuelle Corona-Pandemie der frischen Blüte dieses und anderer Ensembles nicht gleich wieder ein Ende bereitet, sondern vielleicht sogar neue Hörergruppen erschließt, die jetzt ebenfalls die Muße haben, die exotischen Gewächse aus den mittelalterlichen Musikgärten von Florenz kennenzulernen.
Es lohnt sich unbedingt!
Georg Henkel
Besetzung
Andrew Hallock: Countertenor
Vivien Simon: Tenor
Anna Danilevskaia & Sophia Danilevskaia: Fidel
Christoph Sommer: Laute
Roger Helou: Organetto
Franziska Fleischanderl: Psalter
So bewerten wir:
00 bis 05 | Nicht empfehlenswert |
06 bis 10 | Mit (großen) Einschränkungen empfehlenswert |
11 bis 15 | (Hauptsächlich für Fans) empfehlenswert |
16 bis 18 | Sehr empfehlenswert |
19 bis 20 | Überflieger |