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Universe, Incomplete
Info
Musikrichtung:
Klassische Moderne
VÖ: 17.01.2020 (Accentus / Naxos / 2 DVD / AD 2018 / Best. Nr. IBS82018) Gesamtspielzeit: 182:13 |
VISIONÄRER IVES-TORSO
"Universe, Incomplete" haben Regisseur Christoph Marthaler, die Bühnenbildnerin Anna Viebrock und der Dirigent Titus Engel ihr Ruhrtriennale-Projekt zu Charles Ives unvollendeter "Universe Symphony" genannt. Sie widmen sich damit einem der ungewöhnlichsten und enigmatischten Werke, die das 20. Jahrhundert hervorgebracht hat - beinahe zumindest. Nichts weniger als ein musikalisches Abbild des Kosmos sollte diese Sinfonie ursprünglich werden und zugleich einen evolutionären Prozess darstellen, der von den Erkenntnissen der Naturwissenschaften und mehr noch spirituell durch den Transzendentalismus inspiriert ist.
Die drei Abschnitte der Sinfonie sind überschrieben "Past: Formation of the waters and mountains", "Present: Earth, evolution in nature and humanity" und "Future: Heaven, the rise of all to the Spiritual". Ives hatte erste Ideen zu dem Werk um 1911 skizziert und beschäftigte sich immer wieder damit, ohne es zu vollenden. Nur einige Abschnitte wie ein fragmentarisches Preludium und eine sogenannte "Section A" liegen in einer Form vor, die erkennen lassen, was Ives in etwa vorgeschwebt hat. Die Instrumentierung an sich ist schon ungewöhlich genug: Allein 12 Schlagzeuger werden benötigt, dazu ein groß besetzter Streicher- und Bläseraparat; in 20 selbstständigen metrischen Systemen sollten Klänge übereinandergeschichtet ertönen und etwas vom Pulsschlag des Kosmos erahnen lassen.
Wie so oft bei Ives staunt man, wie dieser Komponist, der in seinem ersten Leben Versicherungsmakler war, in mehr oder weniger privater Abgeschiedenheit eine radikal neuartige und avantgardistische Musik schreiben konnte, die so ziemlich alles hinter sich lässt, was seinerzeit im Musikbetrieb üblich war, in Amerika wie in Europa.
Man kann darüber spekulieren, wie viel von Ives Skizzen verloren gegangen sind. Letztlich war Ives es selbst, der späteren Komponisten sein Werkfragment mit dem Hinweis hinterließ, andere mögen die "Universe Symphony" vollenden. In den 1990er Jahren gab es dazu einige Versuche, die freilich recht frei mit dem vorhandenen Material umgingen und eher Aneignungen denn Rekonstruktionen oder Vollendungen darstellen.
Engel, Marthaler und Viebrock gehen in ihrer Musiktheater-Produktion einen anderen Weg: Sie beschränken sich auf die beiden vorhandenen großen "Universe"-Fragmente und komponieren darum herum eine Collage aus anderen Ives-Stücken, Liedern, Hymnen, Orchesterstücken, Klavierwerken, die, vollständig oder ebenfalls fragmentarisch aufgeführt, ein Porträt von Ives wie auch ein Abbild der "unvollendeten" Welt in Musik darstellen. Ein Torso des Torsos gewissermaßen, höchst beeindruckend musiziert von den Bochumern Sinfonikern und spezialisierten kleineren Ensembles, die die vertrackte Kammermusik vom Streichquartett über Solosongs bis hin zu wildverknoteter Band- und Vokalmusik oder vierteltöniger Klaviermusik meistern.
In diese Welt-Musik eingebettet ist eine sehr irdische Szenerie - oder ist es umgekehrt? - die Viebrock in der Jahrhunderthalle Bochum eingerichtet hat und in der ein buntes menschliches Personal agiert, das sängerisch, tänzerisch, darstellerisch umfassend gefordert ist und Herausragendes leistet.
Die Industriearchitektur per se ist schon Kulisse genug, modern und archaisch zugleich, dazu ein paar Tische, Stühle, eine Brücke, ein Lautsprecher, Zitate amerikanischer Alltags-Kultur ... Eine tragikomische Performance im Sinne einer "Comédie humaine" ereignet sich dort, ohne eine eigentliche "Handlung", dafür gespickt mit allen Irrungen und Wirrungen, die das menschliche Leben so kennt.
Marthaler, der Mahler-Experte, identifiziert Ives als einen amerikanischen Verwandten des Wiener Komponisten. Das Unvollendete, Gebrochene, Holperige und Hinfällige des menschlichen Lebens steht darum im Vordergrund: es wird munter aneinandervorbei existiert, manövriert, gegeneinander kommuniziert (mit Nonsense-Texten des Schriftstellers Gerhard Falkner und anderen), alle sind auf der Suche, wollen irgendwohin, kreisen um sich selbst, verrenken sich ineinander, verlieren sich ... und wenn man kurz für einen ätherischen Weihnachtshymnus zusammenfindet, dann wird der aber schon bald wieder von der nächsten kleineren oder größeren Panne gestört. Das Ganze hat Humor und ist zugleich oft schmerzvoll, ein steter Wechsel aus tiefer Leichtigkeit und spielerischem Ernst.
Anders als Ives Musik, die sich in berückend transzendenter Schönheit verlieren kann und das große, göttliche Ganze nicht nur in Zweifeln und ironischen Berechungen beschwört (wie Mahler), sondern immer noch an diese letzte Dimension selbst im Moment des größten Tohuwabohus glaubt, hebt in Marthalers und Vierbrocks Ives-Inszenierung nichts ab - bis auf einen heliumgefüllten Dinosaurier, der in einem Moment träge über die ganze breite der Hallenbühne schwebt. Am Ende freilich erweist sich die ungeheure musikalische Fantasie von Ives, die den Hörer in chaotischen Klangwogen ebenso baden wie ihn mit zartestesten Songmelodien ins Herz zu treffen vermag, immer wieder als stärker als alle Bilder.
Die auch optisch perspektivreich mitgeschnittene Live-Produktion wird ergänzt durch die vorzügliche einstündige Dokumentation "The unanswered Ives" von Anne-Kathrin Peitz. Sollte einen die Bühnenproduktion noch nicht zu einem Ivesianer gemacht haben, dieses auch didaktisch integtelligent komponierte Filmporträt macht sofort große Lust, weiter und tiefer in den Ives'schen Musikkosmos hineinzuhören!
Georg Henkel
Trackliste
DVD II Dokumentation "The Unanswered Ives" 53:18
Besetzung
Schlagquartett Köln
Studierende der Schlagzeugkurse der Hochschule für Musik und Tanz Köln, der Folkwang Universität der Künste, der Hochschule für Musik Detmold, der Ruhr-Universität Bochum, der Musikhochschule Münster
Bochumer Symphoniker
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