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Dumesny, Haute-Contre de Lully
Info
Musikrichtung:
Barock - Oper / Recital
VÖ: 04.10.2019 (Alpha / CD / DDD / 2018 / Best. Nr. Alpha 554) Gesamtspielzeit: 77:13 |
BAROCKER TENOR-HIMMEL
Ein Koch, Kleptomane und Alkoholiker - und über Jahrzehnte der größte Tenor-Star am barocken französischen Opernhimmel: Das war Louis Gaulard Dumesny, geboren um 1635, gestorben je nach Biograph zwischen 1702 und 1715.
Entdeckt und ausgebildet von Jean-Baptiste Lully, arbeitete sich Dusmesny von kleineren Tenor-Rollen hoch bis zum unangefochtenen und allseits bewunderten Hauptdarsteller der zentralen Tenorpartien in Lullys Musiktragödien. Der französische Haute-Contre, der hohe Tenor, singt anders als der englische "Countertenor" nicht durchweg im Falsett, sondern allenfalls bei den Spitzentöne. Ansonsten nutzt er überwiegend die voix mixte aus Brust- und Kopfstimme. Gleichwohl klingt eine solche Stimme ganz anders als z. B. der romantische Tenor in der Tradition eines Enrico Caruso, der vor allem die Bruststimme einsetzt. Der Haute-Contre ist lyrischer, nobler, feiner, er ist ein Kind des Barockzeittalters und hielt sich in Frankreich in dieser Form bis zum Ende des 18. Jahrhunderts - ähnlich wie seine italienischen Kollegen, die Kastraten, wurde er dann durch robustere, "männlichere" Stimmtypen ersetzt, die man als "natürlicher" und für heroische Rollen angemessener empfand.
Nun hat der belgische Tenor Reinoud van Mechelen Dumesny mit dem gleichnamigen Album ein klingendes Denkmal gesetzt und eine Auswahl von Airs aus Opern Lullys und von dessen Nachfolgern eingespielt. Vor allem bei den Kompositionen von Pascall Colasse, Marin Marais, Henry Desmarest, Marc-Antoine Charpentier, Élisabeth Jaquet de la Guerre, Charles-Hubert Gervais, André Cardinal Destouches und André Campra handelt es sich weitgehend um vergessene Musik.
Am bekanntesten dürfte noch Lullys Bois épais, redouble ton ombre ... aus der Oper Amadis sein, das sich auf historischen Aufnahmen z. B. des Bartions Cesare Siepi, der Sopranistin Rosa Ponselle oder eben auch Enrico Carusos findet. Doch nicht nur der Epochenumbruch Ende des 18. Jahrhunderts, sondern auch die stilistischen Eigenarten sorgten wohl dafür, dass das Repertoire für den Haute-Contre erst im Zuge der Alte-Musik-Begeisterung unserer Zeit wieder entdeckt wurde. Vor allem die Stücke in der Tradition Lullys sind keine virtuosen Schlachtrösser, die mit Kaskaden von herausgeschleuderten hohen C's das Publikum von den Sitzen reißen und auch der Orchesterklang ist weniger farbig und opulent.
Lully setzte in seinen Opern die Maßstäbe: Das Wort herrscht über die Musik, die Airs seiner Helden sind kurz, eher liedhaft konstruiert, der Übergang zwischen deklamatorischen und ariosen Teilen fließend. Auch die Verzierungen werden immer im Sinne der Verdeutlichung des dichterischen Wortes gesetzt. Zudem konnte Dumesny keine Noten lesen und benötigte zum Lernen einen Vorsänger. Die Stücke durften also nicht zu komplex sein.
Trotzdem: Der scheinbare Verzicht ermöglichte einen großes Raffinement, z. B. in der exquisiten vokalen Linienführung, die sich über Chaconne-Bässen mit ihren hypnotischen Variationenschleifen auch zu größeren melodischen Bögen entfalten können. In solchen Momenten schwebt die Tenorstimme regelrecht über dem darunter dahinströmenden Orchester, z. B. in Ma vertu cède au coup aus Desmarests Théagene et Cariclée. Herrlich auch ein Sommeil, eine Schlummer-Arie des gleichen Komponisten aus der Oper Circé. Es sind solche zeitlos schönen Stücke, die auch auf der vorliegenden Aufnahme zu den unbestreitbaren Höhepunkten dieses Repertoires zählen.
Sie werden freilich wie die übrigen Kompositionen zu echten Juwelen durch den außergewöhnlich stilsicheren und klangschönen Vortrag von Reinoud van Mechelen. Dieser zeigt sich hier erneut auf der Höhe seines Könnens und seiner stimmlichen Möglichkeiten.
Mühelos bewältigt er mit seiner wohlklingenden und technisch ausgereiften Stimme die mitunter recht hochliegenden Partien. Van Mechelens Stimme spricht leicht an, ist sehr klar und von wunderschöner Farbe. Sie leuchtet gleichsam von innen und verbindet auf ideale Weise lyrisch-sangliche Beweglichkeit mit deklamatorischer Klarheit und Prägnanz. Ob liebender, tragischer oder kampfesmutiger Heros, all diese Facetten bringt der Sänger gleichermaßen eindringlich zur Geltung.
Die betörende Eleganz, mit der van Mechelen z. B. den Schmerz des Aeneas aus Desmarests Didon grundiert, lässt den Hörer ebenso bewegt wie bezaubert zurück. Dieser Held ist keine marmorne Kunstfigur, sondern erscheint in seiner Zerissenheit unmittelbar menschlich und weckt Empathie. Und wenn man dann am Schluss der Sommeil-Arie aus Campras L'Europa Galante lauscht, lädt die pure Schönheit des Gesangs die weltlichen Liebesschwüre des Dom Pedro mit einer nahezu religiösen Innigkeit auf.
Van Mechelen kann die Qualitäten seiner Stimme auch Dank seines vorzüglichen Begleitensembles zur Geltung bringen. A Nocte Temporis kultiviert bei moderater Besetzung einen geschmeidig-vollen, sinnlichen Klang. Auch hier: Eleganz und Klangschönheit pur - auch da, wo Biss und dramatische Attacke gefordert ist.
Eine exemplarische Veröffentlichung, der neugierig auf die offenbar geplanten Fortsetzungen macht!
Georg Henkel
Besetzung
A Nocte Temporis
So bewerten wir:
00 bis 05 | Nicht empfehlenswert |
06 bis 10 | Mit (großen) Einschränkungen empfehlenswert |
11 bis 15 | (Hauptsächlich für Fans) empfehlenswert |
16 bis 18 | Sehr empfehlenswert |
19 bis 20 | Überflieger |