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OCCAM OCEAN vol. 2
Info
Musikrichtung:
Neue Musik Orchester
VÖ: 4.10.2019 (shiiin / outhere CD / AD 2017 / DDD / Best. Nr. shiiin eer 2) Gesamtspielzeit: 52:00 |
DEEP LISTENING
Form ist Leere, Leere ist Form
"Form ist Leere, Leere ist Form", sagt das berühmte Herz-Sutra, eines der zentralen Texte des Buddhismus. Und wenn es eine Musik gibt, in der dieses Paradox Klang geworden ist, dann ist es die Musik der französischen Komponistin Éliane Radigue (geboren 1932). Radigue hat seit den 1970er Jahren ein einzigartiges Oeuvre geschaffen, das durch ihre Hinwendung zum tibetischen Buddhismus sowie die Emanzipation des Klangs gleichermaßen geprägt ist. Ermutigt durch ihre tibetischen Lehrer, hat die Komponistin einen radikal minimalistischen Ansatz verfolgt, zunächst in Gestalt von oft großdimensionierten elektronischen Kompositionen, seit Anfang der 2000er Jahre dann aber ebenso konsequent in Werken für akustische Instrumente und jüngst auch für Orchester.
Die elektronischen Werke realisierte Radigue bevorzugt mit dem Analogsyntheziser ARP 2500, wobei sie auf den potentiell unendlichen Reichtum an Klangmöglichkeiten verzichtete. Statt dessen konzentrierte sie sich auf bestimmte akustische Randphänome wie sanft pulsierenden Klangflächen oder Drones, die seltsam unbestimmt zwischen Ton und Geräusch changieren, und überlagerte und transformierte diese dann in zeitlunpenartig verlangsamten Prozessen. Dies hat sie einmal mit der Verwandlung eines Bergmassivs in eine Teetasse verglichen, eine ausgesprochen buddhistische Metapher, die auf die letztliche Einheit aller Dinge in ihrem Wesensgrund anspielt.
Klang ist Stille, Stille ist Klang
Die oft unmerklichen, kontinuierlichen Verwandlungsprozesse sind der eigentliche "Inhalt" ihrer Stücke, die aufgrund ihrer "dynamischen Statik" mehr an Klanginstallationen erinnern und einen stark kontemplativen Charakter haben. Als Hörender erlebt man sich in Radigues Musik psychoakustisch oft in einen paradoxen Zustand versetzt: Etwas ist da und zugleich ist nichts da bzw. nicht mehr da, denn in dieser Musik ist alles in ständiger Verwandlung, die in ihrer extrem langsamen Permanenz zugleich als Stillstand erlebt werden kann. Man verliert jegliches Zeit- und Orientierungsgefühl. Es gibt nur noch ein Jetzt, die Klangpräsenz im tönenden Moment, der ewig erscheint und doch seine Form ständig wandelt.
Radigue spricht von "deep listening" - dem tiefen Höre, oder besser: dem tiefen Lauschen. Im tiefen Lauschen kann sich die Subjekt-Objekt-Perspektive umkehren. Der Hörer wird die Klänge, die Klänge werden der Hörer. Am Ende ist alles eine Manifestation von Stille. Auch dies eine ausgesprochen buddhistische Perspektive.
Ein Stück für "Orchester-Syntheziser"
Radigues Musik ist Raummusik, sie benötigt Resonanzräume, die mitschwingen, und die Körper der Zuhörer, die in diesen Schwingungsraum eintreten und ihrerseits in Resonanz gehen. Dabei war für die Komponistin der Synthesizer immer ein Kompromiss. Erst seit Anfang der 2000er Jahre haben sich zunehmend Künstler gefunden, die bereit waren, gemeinsam mit Radigue analoge Werke im Geist ihres "maximalen Minimalismus" zu erschaffen.
Daraus gingen Zyklen mit fantsievollen Titeln wie Naldjorlak oder Occam hevor. Der Occam-Zyklus deutet in Untertiteln wie Occam River oder Occam Delta bereits jenen statisch-strömenden Charakter an, der dann 2015 in dem Orchesterwerk Occam Ocean kulminierte - vielleicht so etwas wie die Krönung von Radigues Lebenswerk.
Wahrscheinlich ist es nur dem Insistieren Frédéric Blondys, dem Dirigenten der vorliegenden Aufnahme, zu verdanken, dass sich Radigue nach einigem Zögern bereit erklärt hat, ein Stück für Orchester zu komponieren - oder besser: mit einem Orchester zu kreieren. Im Fall von Occam Ocean sind es die Mitglieder von ONCEIM, einem französischen Experimentalensemble, die sich auf den rund eineinhalb Jahre währenden Erarbeitungsprozess eingelassen haben - mit einem Ergebnis, das all das, was man gemeinhin mit der Vorstellung "Musik für Orchester" (auch für Orchester des 20. oder 21. Jahrhunderts) verbinden mag, vollkommen transzendiert. Nachdem das Ensemble mit dem Stück einige Zeit auf Tournee gewesen ist, wurde 2017 es auf der Biennale in Venedig unter idealen Bedingungen aufgenommen.
Das Werk entstand in enger Zusammenarbeit mit den ONCEIM-Musiker*innen, die Radigue zunächst in Einzelsitzungen mit ihren Klangvorstellungen - dem SEIN des Klangs, einer bestimmten Haltung des Musizierens - vertraut machte, bevor dann nach und nach das WAS des Klingens entwickelt wurde und instrumentale Klanggruppen entstanden, aus deren Interaktion Radigue den Orchesterklang formte wie eine Skulptur. Auf gewisse Weise verwendete sie das Orchester wie früher ihren Syntheziser. Zur Vermittlung ihrer Vorstellungen nutze sie reale Bilder - Fotos - und erläuterte anhand der Motive, welchen Klang sie sich wünscht: "So ist mein Stück ..." Von einem bestimmten Punkt an wurde es nötig, einige Instruktionen zu verschriftlichen, was von Blondy übernommen wurde.
Der Prozess der einfühlenden Klangwerdung durch intensive Einzel- und Gruppenproben war die Voraussetzung dafür, dass am Ende "Ein-Klang" entstehen konnte und jeder Musiker in der Lage war, sich vollkommen mit dem Ganzen zu verbinden, ohne sich darin aufzulösen. Alle Mitwirkenden wurden gemeinsam zum Ozean und erreichten, weit jenseits der bewegten Klang-Meeresoberfläche traditioneller Orchestermusik, gemeinsam die Klangtiefe. Das mag man regressiv finden - aber es ist nur möglich, wenn jede/r einzelne, individuelle Musiker ganz bewusst daran mitwirkt.
Aus dem gemeinsamen Suchen und Finden mit Radigue erwuchs die dreitilige Form des Stücks und die Zeitstruktur: Zunächst setzen die einzelnen Gruppen nacheinander ein, dann folgen Zweierkombinationen und schließlich ein Tutti aller Gruppen, die dann nach und nach wieder pausieren. Das Ganze kann zwischen 50 und 70 Minuten währen. Der Dirigent ist für die Balance und zuständig und steuert die Dauern der Abschnitte je nachdem, wie sich die Musik aktuell entwickelt. Das kann sehr unterschiedlich sein, das Stück klingt darum nie gleich.
Bereits die ersten Sekunden mit dem Einsatz der drei gestrichenen aktustischen Gitarren lassen den Hörer im Zweifel darüber, ob er akustische Instrumente oder ein elektronisches Equiment oder auch nur ein Tonband mit manipulierten Klängen hört.
Das ansonsten überwiegend mit Blasinstrumenten, darunter sechs Saxophonen, besetzte 28köpfige Ensemble erzeugt in verschiedenen "Registrierungen" Klangamalgame, die man meistenteils unmöglich klassifizieren kann. Radigue bevorzugt eher tiefe, aber obertonreiche Klänge. Die Musik darf deswegen im Einzelnen nicht zu laut, allenfalls Mezzoforte, gespielt werden, oft auch nur piano, pp oder pppp - mitunter in feinsten Abstufungen des Leisen und sehr Leisen. Der Ansatz ist weich, unmerklich, es gibt keine Attacke auf den Ton, keine Akzente oder plötzliche Zäsuren - ein kontinuierlicher organisch-körperhafter Klang kann auf diese Weise entstehen, um einiges wärmer, reicher und voller, als er mit einem elektronischen Instrumentarium zu erreichen wäre.
Dabei ergeben sich neben den real erzeugten Tönen durch Mixturklänge, Schwebungen, Differenz- oder Kombinationstöne "Super-Harmonien": ein fein fluktuierendes spektrales und mikrotonales Gewebe, das die Fundamentaltöne einhüllt und eine Art Luminiszens erzeugt. Nach und nach tritt der volle "Klangkörper" in Erscheinung, bis er gleichsam das Total repräsentiert, ein All-Klang-Geräusch-Ton-Gemisch, die Fülle der Ambiguität. Selbst menschliche Stimmen meint man mitunter darin zu erkennen. Das Stück verliert sich schließlich in einem eben wahrnehmbaren perkussiven Pulsieren in hohe Lage in die Stille hinein (erzeugt u. a. mit Tremolo-Spiel auf einer akustischen Gitarre!): Nur der Schaum der Wellen bleibt zurück.
Diese bemerkenswert Produktion ist beim Label Shiiin in schöner Ausstattung mit einem ausführlichen illustrierten Beiheft erschienen, das neben einer Einführung von Élaine Radigue ein umfangreiches Interview mit sechs an dem Projekt beteiligten Musikern enthält. Ein besonderes Lob verdienen die vorzügliche Aufnahmetechnik und Abmischung (Camille Lézer, Tino Javoy).
Élaine Radigues Occam Ocean ist das reife Zeugnis einer extremen Ästhetik - und in seiner Konzeption wie auch der vorzüglichen Umsetzung und Präsentation restlos überzeugend.
Georg Henkel
Besetzung
Frédéric Blondy, Leitung
So bewerten wir:
00 bis 05 | Nicht empfehlenswert |
06 bis 10 | Mit (großen) Einschränkungen empfehlenswert |
11 bis 15 | (Hauptsächlich für Fans) empfehlenswert |
16 bis 18 | Sehr empfehlenswert |
19 bis 20 | Überflieger |