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Scenes
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Musikrichtung:
Neue Musik Vokal / Kammermusik
VÖ: 02.08.2019 (/b>Autdite / Note 1 / CD DDD / 2017 / Best. Nr. audite 97.762) Gesamtspielzeit: 61:24 |
ESSENTIELL UND EXISTENZIELL
György Kurtag, der Meister der musikalischen Miniatur, benötigt oft nur wenige Takte, ja eine Hand voll Noten, um Welten von größter Ausdrucksintensität und musikalischer Fülle zu entfalten. Dabei birgt selbst das scheinbar Einfache wie ein gebrochener Akkord einen oft ungeahnten Reichtum, während das Vielschichtige und Querständige in Kurtags Musik nie um seiner selbst Willen komplex ist. Kurtags Musik kommuniziert, indem sie auf sich selbst und auf jene Stille lauscht, aus der sie hervorgeht und indem sie die Hörenden unmittelbar anspricht, miteinbezieht, in ihnen emotionale Resonanzräume öffnet.
Auf der aktuellen CD Scenes finden gleich fünf kammermusikalische Zyklen und ein Einzelwerk Platz: Zusammen ergibt das 57 Tracks bei rund 61 Minuten Spielzeit. Die kürzesten Stücke währen nicht einmal 20 Sekunden, das längste drei Minuten. In alle Fällen frappiert die Kunst, den Kondensaten die Kraft von miniaturisierten Epen zu verleihen.
Das Expressive, Theaterhafte der hier versammelten Stücke lässt leicht verstehen, warum man von Kurtag trotz seiner verknappten Schreibweise immer eine abendfüllende Oper erhofft hat, die er erst im fortgeschrittendsten Alter von über 90 Jahren vorgelegt hat: "Fin de partie", eine wortgetreue Vertonung des gleichnamigen Theaterstücks von Samuel Beckett, wurde 2019 in einer ersten, noch nicht vollendeten Fassung, an der Mailänder Scala uraufgeführt.
Die Kunst Kurtags, mit den Worten der dichterischen Vorlage in eine dialogische Beziehung zu treten und ihre Ausdrucksenergien auf kleinstem Raum zu entfalten, kann man auch auf der vorliegenden Aufnahme bei den Gesängen zu Gedichten von Rimma Dalos "Szenen aus einem Roman" op. 19, den "Sieben Liedern" op. 22, dem Zyklus "In Erinnerung an einen Winterabend" op. 8 und "Einige Sätze aus den Sudelbüchern Georg Christoph Lichtenbergs" op. 37a entdecken. Die Stücke sind für Sopranstimme, Violine, Kontrabass und/oder Zymbal (Hackbrett), geschrieben. Letzteres hat auch in rein instrumentalen Besetzungen Kurtags Interesse gefunden. Und so ergänzen die "Acht Duos für Violine & Zymbal" op. 4 sowie das finale "Homage à Berényi Ferenc" op. 70 für Solo-Zymbal das Programm.
Trotz der unterschiedlichen Inspirationen ist ein Album von starkem innerem Zusammenhalt entstanden: Kurtags aus vielen Traditionen sich nährende Sprache ist bei aller Vielfalt unverwechselbar; eine gleichsam "ungarische" Mundart äußert sich nicht nur in den Vokalwerken auf muttersprachliche Dichtung, sondern in der instrumentalen Besetzung. Dieser gewinnt der Komponist immer wieder die wunderbarsten Klangfarben und Schattierungen ab, wobei die beschließende "Hommage" mit dem archaisch tönenden Zymbal einen geradezu transzendenter Ausklang bildet.
Luigi Gaggero, der auch den vorzüglichen Booklettext beigesteuert hat (zu den vertonten Texte führt ein QR-Code, sie gibt es nur auf der Homepage des Lables Audite). Gaggero verweist auf den authentischen spirituellen Kern von Kurtags Musik - im italienischen Original ist sogar von "Musica sacra" die Rede. Das ist nicht im religiösen Sinne gemeint; Kurtag vertont keine liturgischen Texte, äußert keine religiösen Bekenntnisse.
Und doch stimmt, was Gaggero schreibt: im Innersten dieser Musik ist Licht; ein Licht, dass der Komponist, unvollkommen, ungenügend und schuldbewusst, sucht "wie eine Motte das Licht" (um es in Kurtags eigenen Worten zu sagen). Die zweieinhalb Minuten, die die "Hommage" dauert, erscheinen wie das zarteste, tastende Suchen, um eine Ahnung jenes innersten Lichtes einzufangen. Die Zymbal-Klänge sezten zörgende Spuren, leuchten in der Dunkelheit der Stille. Das ruhige Werk ist ein Höhepunkt dieser Platte, wobei die Produzenten darauf geachtet haben, dass die abschließende Schlussstille den nötigen Raum bekommt, um als solche wirklich erfahrbar zu werden und nicht durch das Motorengeräusch des Lasers ausradiert zu werden.
Bemerkenswert sind nicht nur die poetischen Duos für Hackbrett und Violine, sondern auch die Lieder für Sopran und Instrumente. Mit der Sopranistin Viktoriia Vitrenko wurde eine Solistin gewonnen, die ein tiefes Verständnis und die nötigen technischen Fähigkeiten für Kurtags differenziert dramatische Sing-Sprech-Artikulationen hat, bei denen oft von einem zum anderen Ton eine ganz neue Klangwelt sich auftut und die Sängerin wie ein Seismograph feinste seelische Regungen nachzeichnen muss.
Egal, ob lyrische Linien im schönsten, vibratoarmen Ton zu singen oder Worte entsagungsvoll zu flüstern sind oder harsche, grelle Lautungen in extremer Dynamik geäußert werden müssen: Mühelos bewältigt Vitrenko den Wechsel der Klang- und Ausdrucksregister. Ihre Stimme schmiegt sich in die Musik, so dass sie selbst in extremen Zuspitzungen ganz natürlich wirkt und nicht outriert. Es sei denn, die Musik Kurtags fordert eben dies; freilich ist diese selbst in ihren brennendsten Schmerz- und Sehnsuchtsmomenten immer existentiell, wahrhaft, lauter - selten einmal gewollt komisch, gar ironisch (wie in den witzigen Lichtenberg-Aperçus).
Mit David Grimal an der Violine und Niek de Groot am Kontrabass stehen der Sängerin ebenbürtige Instrumentalisten zur Seite; in Kurtags musikalischen Universen gibt es keine "Begleitung", hier sind alle Beteiligten gleichermaßen an der Darstellung beteiligt. So müssen auch die Streicher und das Zymbal eine Fülle unterschiedlichster Klangäußerungen vom satt gestrichenen Einzelton bis hin zum geisterhaften Flageolett-Glissando meistern.
Der Komponist ist für seine sehr kritische Haltung und seine unerbittliche Probenarbeit bekannt. Oft erarbeitet er seine Werke in strapaziösen Proben, bei denen sich jeder Ton "verdient" werden muss. Legendär ist beispielsweise ein Kommentar wie: "Sie singen das so, wie es geschrieben ist. Das ist falsch." Zwar fehlt bei dieser Produktion ein Hinweis auf die Mitwirkung des Komponisten, doch angesichts der Detailgenauigkeit und Intensität darf man davon ausgehen, dass die Interpreten ganz im Geiste des strengen Meisters musizieren.
Auch klangtechnisch famos gelungen, ist dieses Album ein weiterer Meilenstein in der Kurtag-Diskographie.
Georg Henkel
Trackliste
8 Duos für Violine & Cimbalom op. 4
7 Lieder op. 22
In memory of a Winter evening op. 8
Sätze aus Georg Christoph Lichtenbergs "Scrapbooks" op. 37a
Hommage a Berenyi Ferenc
Besetzung
David Grimal, Violine
Luigi Gaggero, Zymbal
Niek de Groot, Kontrabass
So bewerten wir:
00 bis 05 | Nicht empfehlenswert |
06 bis 10 | Mit (großen) Einschränkungen empfehlenswert |
11 bis 15 | (Hauptsächlich für Fans) empfehlenswert |
16 bis 18 | Sehr empfehlenswert |
19 bis 20 | Überflieger |