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Les Indes Galantes (Vers. 1761)
Info
Musikrichtung:
Barock Oper
VÖ: 08.02.2019 (Glossa / Note 1 / CD DDD / 2018 /Best. Nr. GCD 924005) Gesamtspielzeit: 123:41 |
GLOBALES LIEBESTHEATER
Liebesirrungen und -wirrungen an exotischen Orten - so etwa lässt sich der Inhalt von Jean-Phlippe Rameaus zweitem Werk für die Opernbühne zusammenfassen. Die 1735 uraufgeführten Les Indes Galantes entführen das Publikum an entlegene Orte in Asien oder Amerika, wo "edle Wilde" und europäische "Entedecker" sich in mehr oder weniger dramatische amouröse Verwicklungen verstricken.
Dabei war Rameaus Librettist Louis Fuzelier durchaus daran gelegen, aufklärerische Kritik an habgierigen Eroberern oder manipulativen Priestern zu üben und Unterhaltung mit Anspruch zu verbinden. Das gilt auch für die Musik Rameaus, der nach dem Skandalerfolg seiner ersten Oper kaum weniger einfallsreich in einem leichteren Genre reüssierte, der heroischen Ballett-Oper: Nach einem "Prolog", der das Thema vorgibt, folgen mehrere eigenständige Entrées bzw. Aufzüge, in denen dieses Thema durchgespielt wird, wobei Schaugepränge und Effekte wie in der ernsten Oper unverzichtbare Elemente darstellen.
"Les Indes galantes" erlebte bis 1761, der letzten Aufführung zu Rameaus Lebzeiten, mehrere Erweiterungen und Überarbeitungen. Auf Platte, CD und DVD wurde das Werk nach einem längeren Dornröschenschlaf seit den 1970er Jahren mehrfach eingespielt, umfassend u. a. unter William Christie und Les Arts Florissants, die die insgesamt vier Aufzüge in maßstäblichen Interpretationen auf CD und DVD gebannt haben (1990 bzw. 2003).
2019 legt György Vashegyi mit seinen ungarischen Ensembles Orfeo Orchestra und Purcell Choir eine neue Version der letzten Fassung von 1761 vor. Sie besteht aus drei Aufzügen:
1. Die Inkas in Peru - eine Minitragödie: Hohepriester Huascar liebt Inkaprinzessin Phani, die aber dem Konquistador Don Carlos zugetan ist.
2. Der großmütige Türke - ein moralisches Lehrstück: Pascha Osman schenkt der von ihm begehrten christlichen Sklavin Émilie die Freiheit.
3. Die Wilden - eine Art "Schäferspiel" unter Bäumen: Die Indianerin Zima widersteht dem Werben des Franzosen Damon und des Spaniers Don Alvaro und schenkt Adario, dem Angehörigen ihres Stammes, ihr Herz.
Der komödiantische Aufzug "Die Blumen in Persien", der in einem Serail spielt, wurde, dem Vorschlag Rameaus von 1761 folgend, gestrichen - was etwas schade ist wegen der wunderbaren Musik, aber nachvollziehbar aufgrund der etwas konfusen Handlung. Rameau selbst hatte außerdem Kürzungen im Prolog vorgenommen (ausgerechnet die Figur des Amor entfiel) und auch ansonsten mit kleinerer Änderungen für einen bündigeren Gesamteindruck gesorgt. Trotzdem ist diese Fassung, anders als z. B. bei den tiefgreifend revidierten Opern "Daradanus", "Castor et Pollux" oder "Zorastre", kein gänzlich neues Werk.
Nur noch knapp zwei Stunden dauert die musikalische Weltreise jetzt (über drei Stunden hingegen bei Christie). Das verdankt sich auch den etwas zügigeren Tempi sowie dem Verzicht auf Wiederholungen. Besticht Christies Version nach wie vor durch die exzellente junge Sänger*innenriege, eine kristalline (mitunter auch etwa kühle) Klarheit und dezente Farbigkeit, so punktet die Neueinspielung mit einem sonoreren Klangbild und einem ebenso stilsicheren wie herzhaften Zugriff, der noch mehr Drama und Effekt aus der Musik hervorkitzelt, besonders bei der Entfesslung von Naturgewalten wie Vulkanausbruch und Seesturm.
Das Klangbild ist zwar weniger durchsichtig, hat aber mehr Substanz und Tragfähigkeit für die durchweg sehr guten Solist*innen, die einiges mehr an vokaler Performance und stimmlichem Volumen einsetzen als Christies Truppe 1990. Dabei hat Veronique Gens, einst an vielen Einspielungen Christies beteiligt, einen denkwürdigen Auftritt in der Rolle der Inka-Schönheit Phani. Wobei Gens volle, nachgerade romantische Tongebung überrascht. Tatsächlich ist die Rolle der Phani für einen "grand desssus", also eine große Sopranstimme geschrieben worden. Einerseits scheint Gens Stimme mit ihrem satten Vibrato inzwischen fast ein wenig zu groß für Rameau. Andererseits entsteht in den wenigen Takten von Viens, Hymen wie auch in den Rezitativen eine Figur von Tragödien-Format. Doch auch die schlankeren, aber volltönenden Stimme von Chantal Santon Jeffery und Katherine Watson verleihen virtuosen Figuren wie Hebé und Zima bzw. der verhalteneren Emilie großes Format. Ebenso sind die wohltimbrierten Herren Reinoud van Mechelen, Jean-Sébastien Bou sowie Thomas Dolie ihren Rollen durchweg gewachsen und erfüllen sie auf der imaginären Bühne mit Leben und Leidenschaft. Vor allem Dolies Huascar ist ein starker, bewegender Gegenpart zur Phani von Gens; gleichermaßen glaubwürdig gestaltet er den erhabenen Hohepriester wie den verzweifelt Liebenden. Jean-Sébastien Bou findet in der Rolle des Indianers Adario die Möglichkeit zu einer nuancierten Darstellung, die ihm noch besser gelingt als beim großherzigen Osman.
Insgesamt eine sehr stimmige, farbenreiche und temperamentvolle Einspielung von Rameaus Zauberwerk!
Hervorzuheben ist überdies der sehr informative Booklet-Text, der in die verzwickte Quellenlage und die wechselhafte Aufführungsgeschichte des Werkes bis zur Gegenwart einführt.
Georg Henkel
Trackliste
CD II: 2. und 3. Entrée 62:56
Besetzung
Katherine Watson
Veronique Gens
Reinoud van Mechelen
Jean-Sébastien Bou
Thomas Dolíe
Purcell Choir
Orfeo Orchestra
György Vashegyi, Leitung
So bewerten wir:
00 bis 05 | Nicht empfehlenswert |
06 bis 10 | Mit (großen) Einschränkungen empfehlenswert |
11 bis 15 | (Hauptsächlich für Fans) empfehlenswert |
16 bis 18 | Sehr empfehlenswert |
19 bis 20 | Überflieger |