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Kurzwellen
Info
Musikrichtung:
Neue Musik Elektronik
VÖ: 30.05.2018 (Mode Records / Klassik Center Kassel / CD / AD 2012 / DDD / Best. Nr. Mode 302) Gesamtspielzeit: 48:02 |
KURZWELLEN-MEDITATIONEN
KURZWELLEN aus dem Jahr 1968 stammt aus einer Phase im Schaffen von Karlheinz Stockhausen, in der er größmögliche Freiheiten und formale Strenge miteinander zu verbinden suchte: Das Ausgangsmaterial für dieses Werk stammt nicht vom Komponisten, sondern wird ad hoc, während der Aufführung, durch vier Kurzwellenempfänger eingespielt.
Das besondere an Kurzwellen ist, dass sie die Sendesignale auch entferntester Radiostationen gleichsam "über Bande", nämlich über die Reflexion von Erdboden und Ionosphäre rund um den Globus transportieren, so das man mit Kurzwellenempfang buchstäblich dem "Sound of the World" (und vielleicht sogar darüber hinaus) lauschen kann - dies freilich meist mehr oder weniger stark verzerrt und transformiert, durchesetzt mit allerlei Beeps, Boobs, Interferenzen und farbigem Rauschen.
Als Stockhausen dieses Stück konzipierte, war das Kurzwellen-Universum eine ungemein reiche Klangwelt, voller geheimnisvoller Signale, die von Morsetönen bis hin zu exotischten Nachrichtensendungen und Musikstücken vom anderen Ende der Welt reichten. Auch der Spionagefunk des Kalten Krieges mischte mit. Das Soundgemisch, das aus den Lautsprecherboxen kam, ersetzte dem Komponisten ein ganzes elektronisches Studio und ermöglichte es ihm zugleich, seine Vision einer Weltmusik zu realisieren.
Die Kurzwellen-Signale werden dazu nach einer genau festgelegten grafischen Partitur von den empfangenen Musikern weiter verarbeitet: Bestimmte Signal-Parameter wie Tonhöhen, Dynamik, Rhythmus, Klangfarbe usw. werden mit akustischen und elektronischen Instrumenten sowie Filtern in andere Klänge übersetzt, verstärkt, abgeschwächt, gemischt, umgewandelt usw. Die Form ist also genau festgelegt, das musikalische Ergebnis aber offen.
Dass dieses Werk und verwandte Kompositionen Stockhausens wie POLE oder PLUSMINUS selten aufgeführt werden, hat nicht zuletzt mit den Veränderungen im Reich der Kurzwellen zu tun: Es ist klanglich ärmer geworden. Will man nicht auf alte Kurzwellen-Aufzeichnungen zurückgreifen, dann muss man entweder auf konventionelle UKW-Radiosendungen ausweichen oder man begnügt sich mit dem, was das KW-Universum heute noch hergibt.
In dieser Hinsicht hält sich das C.L.S.I. Ensemble streng an die Vorgaben Stockhausens und benutzt KW-Radios. Bei der Aufführung aus dem Jahr 2012 aber geht es auch neue Wege und ersetzt den Klangregisseur an den Filtern - einst war dies der Komponist persönlich - durch einen Dirigenten, der ein achtköpfiges Ensemble leitet. Die acht Musiker bilden vier Teams aus je einem Spieler elektronischer oder akustischer Instrumente (Klavier, Viola, Tibetische Klangschalen) und einem Spieler, der je ein KW-Radio und weitere Live-Electronik bedient.
Das ermöglicht ein sehr flexibles, partiturnahes Reagieren auf die hereinkommenden KW-Ereignisse. Wo Stockhausens Ensemble noch aus einer Fülle faszinierender KW-Klangereignisse auswählen konnte, macht das C.L.S.I. Ensemble aus der Not eine Tugend und setzt die kybernetische Partitur mit größmöglicher Klangfantasie um. Und zeichnet Stockhausens eigene Produktionen eine raue, mitunter ungebärdige Klangwirkung aus - hier war auch noch ein großes Tamtam beteiligt - so ist die Neueinspielung vergleichsweise kammermusikalischer, transparenter, nüchterner geraten. Der Noisy-Charme der Stockhausen-Produktion ist einem sensiblen, sinnlichen Hineinlauschen in die Transformationsprozesse gewichen, die oft als Duos gestaltet werden. Diese KURZWELLEN ähneln mehr einer KW-Meditation.
Besondere Erwähnung verdient noch der Booklettext von Leopoldo Siano: Anhand von KURZWELLEN gelingt ihm auf nur fünf Seiten eine Einführung in Stockhausens Gesamtwerk und dessen Einordnung in den musikgeschichtlichen Kontext mit Ausblicken, die neugierig machen - auch eine Form von Kunst!
Insgesamt eine auch aufnahmetechnisch durchaus überzeugende Alternative, die aufführungspraktische Lösungswege weisen kann.
Georg Henkel
Besetzung
Jacqueline Mefano: Klavier / Lissa Meridan: KW-Radio, Filter, Ring-Modulation
Michael Kinney: Synthesizer, Live-Electronics / Martin Phelps: KW-Radio, Live-Electronics
Olga Krashenko: Viola / Gerard Pape: KW-Radio, Filter, Ring-Modulation
Stefan Tiedje: Tibetische Klangschalen / Rodolphe Bourotte: KW-Radio, Filter, Ring-Modulation
Paul Mefano: Leitung
So bewerten wir:
00 bis 05 | Nicht empfehlenswert |
06 bis 10 | Mit (großen) Einschränkungen empfehlenswert |
11 bis 15 | (Hauptsächlich für Fans) empfehlenswert |
16 bis 18 | Sehr empfehlenswert |
19 bis 20 | Überflieger |