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Médée, Ariane, Circé, Héro … les déesses outragées
Info
Musikrichtung:
Weltliche Kantate
VÖ: 01.04.2005 Alpha / Note 1 CD DDD (AD 2004) / Best. Nr. Alpha 068 Gesamtspielzeit: 68:26 |
WENN FRAUEN ZU SEHR LIEBEN: MELLONS PSYCHOGRAMME
Als William Christi Anfang der 1980er Jahre das Ensemble Les Arts Florissants gründete, um die weitgehend unbekannte Welt des französischen Barock zu erforschen, hatte er in der Sopranistin Agnès Mellon eine geradezu ideale Interpretin für dieses Repertoire gefunden. Unvergesslich ist z. B. ihre Sangaride in Lullys „Atys“. Mit schlankem und biegsamem, in der Höhe leuchtendem Ton verlieh sie den zerbrechlichen Heroinnen dieser mythologisch verbrämten Kunstwelten eine anrührende Menschlichkeit und emotionale Tiefe. Durch die sensible Gestaltung entpuppte sich die vordergründige Einfachheit mancher Melodie unerwartet als große, bewegende Kunst.
Zwanzig Jahre sind seitdem vergangen. Wie man auf dieser Platte mit erlesenen Kantaten von Philippe Coubois, François Colin de Blamont und Nicolas Clerambault hören kann, hat Mellon ihren mädchenhaften Ton und eine gewisse artifizielle Naivität inzwischen abgelegt. Ihre Stimme ist hörbar reifer geworden und hat eine dunklere Mezzo-Tönung angenommen. Doch während sie vor allem in den tiefen Registern hinzugewonnen hat, machen sich in der Höhe auch feine Risse und eine leicht angerauhte Tongebung bemerkbar.
In der Kunst der Gestaltung dürfte Agnès Mellon dagegen nicht so schnell zu übertreffen sein. Ihr gelingt es, jede Phrase, jedes Wort mit dramatischem Atem zu füllen, so dass selbst stereotype Wendungen unverbraucht klingen. Dass tragische mythische Frauengestalten mit großem Leidensdruck und nicht minder großen Rachgelüsten im Mittelpunkt der Stücke stehen, bietet Komponisten und Interpreten überdies Gelegenheit für komplexe Charakterstudien.
Die ausgesuchten Stücke warten denn auch immer wieder mit kleinen Kostbarkeiten auf, die sie über den Durchschnitt erheben: Das herrliche, fast schon abgründig schön verzweifelte Ne vous réveillez pas encore aus Courbois „Ariane“ mit einer außergewöhnlichen Begleitung von Flöte und Gambe oder das nicht weniger ergreifende Dieu des mers aus Clerambaults Kantate „Léandre et Héro gehören dazu. Dass eine kammermusikalische Besetzung die große theatralische Geste nicht ausschließt, demonstriert Clerambault vor allem in seiner 2. Kantate Médée, die die verzweifelte Zauberin schier außer sich, am Rande eines dämonischen Ausbruchs zeigt. Auch Blamonts Circé deliriert sich durch entlegene chromatische Regionen in einen Wahn, zu dem nur Zauberinnen auf der französischen Bühne fähig sind (nachdem sie mit dem italienischen Virtuositäts-Virus infiziert wurden!)
Mellon setzt die notierten Vorgaben mit geradezu psychologischem Gespür für die unterschiedlichen Seelenzustände und -abgründe um. Im Gegenzug realisieren die Instrumentalisten das ausgefeilte Konzept der Sängerin nicht minder effektvoll, so dass das Programm in jedem Augenblick berührt und fasziniert.
Georg Henkel
Trackliste
07-14 Clerambault: Lèandre et Héro 19:17
15-24 Blamont: Circé 16:25
22-32 Clerambault: Médée 18:44
Besetzung
Amélie Michel, Traversflöte
Alice Piérot, Violine
Eric Bellocq, Theorbe
Kenneth Weiss, Cembalo
Richard Boothby, Gambe
So bewerten wir:
00 bis 05 | Nicht empfehlenswert |
06 bis 10 | Mit (großen) Einschränkungen empfehlenswert |
11 bis 15 | (Hauptsächlich für Fans) empfehlenswert |
16 bis 18 | Sehr empfehlenswert |
19 bis 20 | Überflieger |