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Klaviersonate Nr. 2 "Concord"
Info
Musikrichtung:
Klassische Moderne Klavier
VÖ: 27.07.2017 (BIS Records Klassik Center Kassel / SACD hybrid / AD 2016 / Best. Nr. BIS-2249) Gesamtspielzeit: 58:11 |
IVES, DER NOSTALGISCHE REBELL II
Charles Ives 2. Klaviersonate Concord, Mass., 1840-60 gehört zu den wirklich "großen Brocken" des Repertoires; ein ambitionierter, genre- und grenzüberschreitender Wurf wie Beethovens Hammerklaviersonate oder Liszts H-Moll-Sonate.
Die vier Sätze sind musikalische Portraits von Vertretern des Transzendentalismus, einer amerikanischen spirituellen Strömung, die im 19. Jahrhundert aus dem Puritanismus erwachsen ist und auf originelle Weise Einflüsse der indischen Philosophie mit Vorstellungen der christlichen Mystik, der englischen Romantik und des deutschen Idealismus verschmolz.
In seinen musikalischen Hommagen an Waldo Emerson, Nathaniel Hawthorne, der Familie von Amos Bronson Alcott sowie Henry David Thoreau aktiviert Ives ein komplexes Netzwerk motivischer Bezüge und Zitate, die von Beethovens Schicksalsmotiv aus dem Kopfsatz der 5. Sinfonie (das berühmte Ta-ta-ta-taaa) über Wagners "Tristan" und "Lohengrin" bis hin zu amerikanischen Kirchenhymnen, Volksliedern, Märschen und Ragtimes reichen.
Aus Framgmenten dieser Zitate bildete der Komponist überdies eine Art "Super-Leitmotiv", das er als "Melodie des menschlichen Glaubens" bezeichnete und das sich durch die vier sehr unterschiedlichen Sätze der Concord-Sonate hindurchzieht.
Ives hat das Werk in einer ersten Version 1920 veröffentlich, es dann aber über die Jahre immer noch weiter bearbeitet. Vor allem die Harmonik wurde weiter angereichert, mit Dissonanzen gewürzt und die sowieso schon recht avantgardistische Musik dadruch noch einmal auf den aktuellen Stand der musikalischen Entwicklungen (Stravinsky, Schönberg ...) gebracht. Da Ives in weiten Teilen seiner Sonate auf Taktstriche verzichtet hat, ist jeder Pianist gefordert, den Klangfluss und die Struktur der Musik jeweils neu herauszuhören, die komponierte "Improvisation" bei einer Aufführung in eine vorrübergehend fixe Form zu bringen.
Der junge finnische Pianist Joonas Ahonen spielt die Spätfassung von Ives Werk und er tut dies mit technischer Souveräntät, jugendlicher Energie und zugleich einer erstaunlichen Abgeklärtheit.
Man hört, dass Ahonen seine Pianistik nicht nur am Klassiker Beethoven, sondern auch an den höllenschweren Klavierwerken von György Ligeti geschult hat: Gleich zu Beginn lässt Ahonen das klangliche Geflecht lustvoll kollidieren, setzt prägnante Akzente und jazzt so die ersten Take regelrecht an. An anderer Stelle werden die Motivüberlagerungen und Stimmgeflechte wie in einer Ligeti-Etüde herausgearbeitet.
Ahonen spitzt die Extreme zu, ohne sie zu überspitzen. Mit Verve stürzt er sich ins Getümmel und meistert die oft abrupten Dynamik- und Stimmungswechsel, ohne je den Überblick zu verlieren. Sein virtuoses, transparentes Spiel ist vor allem im ersten Satz sinnvoll; Ives setzt hier schroffe, oft wie hingewürfelt wirkende Architekturen gegen lyrische, atmosphärische Abschnitte. Erstere können schnell hart und grau klingen. Bei Ahonen zeigen sie wegen der differenzierten Artikulation und Farbgebung ein reiches Innenleben. Um so gelungener dann der Kontrast zu den leisen, zart ausgesponnenen Partien.
Der Hawthorne-Satz ist gleichsam das Scherzo, eine musikalische Kommödie innerhalb der Sonate, die Ahonen als zirzensisches Tasten-Feuerwerk mit zarten impressonistischen Cluster-Einwürfen inzeniert (für letztere sind die Klaviertasten mit einem von Ives genau bemessenen schweren Holzlineal niederzudrücken). Ives Musik darf bei Ahonen tanzen, ja manchmal regelrecht grooven, abheben und in der schieren Massierung der Klangmittel (wie in einer der Player-Piano-Studies von Conlon Nancarrow), den Hörer auch überwältigen.
Nach diesen beiden Parforce-Ritten Alcotts kostet Ahonen den hymnischen, spannungsvoll tonalen Alcotts-Satz mit seinen zum Schluss mächtigen Bass-Resonanzen weidlich aus. Doch zum Höhepunkt gerät noch einmal der abschließde zart-poetische Thoreau-Satz. Das Finale der Sonate ist eine Art amerikanische Antwort auf Chopin und den französischen Impressionismus, in dem sich die Zeit immer weiter verlangsamt, bis die schwebende Musik in sich selbst zum Stillstand zu kommen scheint und in ein großes Schweigen verklingt. John Cage und vor allem Morton Feldman scheinen da ebenfalls nicht mehr fern zu sein.
Ives zeichnet ein Stimmungsbild des Walden-Sees, an dem Thoreau in relativer Einsamkeit für einige Jahre gelebt hat, an einem nebeligen Herbsttag. Zugleich beschwört er die geheimnisvolle Macht der Natur - bei Ahonen, der tief in die dunklen Register des Klaviers hineinhorcht, ist das von geradezu magischer Wirkung.
Spätestens hier dürften auch jene Hörer, denen die ersten beiden Sätze zu konfus und überladen erscheinen, für Ives gewonnen sein. Dem atmosphärischen Sog der Musik kann man sich nicht entziehen.
Der Komponist hat gegen Ende noch eine Flöte ad libitum vorgesehen, die die fast komplette "Melodie des menschlichen Glaubens" spielt und die Sonate damit zusammenfasst und zugleich übersteigt - ein surrealer Effekt, der in diesem Fall durch den fernen, sinusartig schlanken Klang von Sharon Bezalys Flöte noch gesteigert wird. Gleiches gilt für den sehr kurzen Viola-Einsatz am Ende des Emerson-Satzes, der unwirklich fahl durch den Klaviersatz hindurchschimmert.
Eröffnet wird die auch klanglich sehr gute Aufnahme übrigens durch die Sonata No. 4 'Childrens Day at the Camp Meeting' für Violine (auch Viola: Pekka Kuusisto) und Klavier. Auch hier ist eine maßstäbliche Einspielung gelungen, nicht zuletzt weil Kuusisto über einen wandlungsfähigigen, farbigen Violinklang gebietet und die beiden Interpreten die unterschiedlichen musikalischen Temperamente in Ives Musik differenziert auskosten. Vor allem der mit hypnotischer Ruhe ausgespielte 2. Satz erweist sich als Verwandter des Thoreau-Parts in der Concord-Sonate. Gerne würde man noch die anderen drei Sonaten von den beiden hören!
Georg Henkel
Trackliste
04-07 Sonata No. 2 Concord 47:04
Besetzung
Pekka Kuusisto: Violine (Viola)
Sharon Bezaly: Flöte
So bewerten wir:
00 bis 05 | Nicht empfehlenswert |
06 bis 10 | Mit (großen) Einschränkungen empfehlenswert |
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16 bis 18 | Sehr empfehlenswert |
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