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1160-1245. Perotin und die Schule von Notre Dame
Info
Musikrichtung:
Vokalmusik des Mittelalter
VÖ: 01.10.2004 Ambroisie / Note 1 CD DDD (AD 2000) / Best. Nr. AMB 9947 Gesamtspielzeit: 54:10 |
PULS DER EWIGKEIT
Mit den drei- und vierstimmigen Organa eines gewissen Magister Perotinus erreichte um 1200 die abendländische Musikgeschichte zu Notre Dame in Paris ihren ersten Höhepunkt. Bei den Organa handelt es sich um Choralbearbeitungen, allerdings von monumentaler Ausdehnung. Die gregorianische Melodie fungiert als harmonisches Fundament. Ihre Töne werden dabei über viele Takte hinweg ausgehalten, so dass sie praktisch unkenntlich wird. Darüber bewegen sich die übrigen Stimmen mit- und gegeneinander in dichten rhythmischen Mustern. Der Text ist weitgehend unverständlich, er wird durch das kompositorische Verfahren sozusagen atomisiert. Was man hört, sind scheinbar endlos pulsierende Melismen und kaleidoskopartig sich verändernde Rhythmen.
Natürlich muss jede Annäherung an diese 800 Jahre alte Musik spekulativ bleiben. Dennoch: Die Nähe zu bestimmten Formen heutiger Minimalmusic ist verblüffend. 1989 hat das englische Hilliard Ensemble (ECM New Series) dieser Tatsache durch eine betont rhythmische Darstellung Rechnung getragen, wobei die harmonischen Wechsel durch dynamische und agogische Steigerungen eindrucksvoll nachgezeichnet wurden. Von suggestiver Wirkung sind auch der großzügige Kirchenhall und die mehrfache Stimmbesetzung.
Ganz anders, aber auf seine Weise nicht weniger faszinierend, klingt das Ensemble Gilles Binchois. Die Akustik ist trockener, Tempo und Stimmführung sind ruhiger. Tatsächlich wurde in Notre Dame der Hochchor, wo diese Musik erklang, an hohen Feiertagen mit Wandteppichen ausgehängt, was für eine diskrete Raumwirkung gesorgt haben dürfte: Die Kirche wird zum Konzertsaal. Dabei erscheint das berühmte „Sederunt principes“, das großartige Graduale zum zweiten Weihnachtsfeiertag, beim Ensemble Gilles Binchois mehr als weitschwingendes Klangband, dessen harmonisches Farbspektrum sich graduell verändert. Die Besetzung mit nur vier Sängern sorgt für eine intime Klanglichkeit und betont den elitären Charakter dieser Kunst.
Dieser eher kontemplative Ansatz kennzeichnet auch die übrigen Interpretationen auf dieser CD, wobei der Wechsel von Männer- und Frauenstimmen von besonderem Reiz ist. Das von drei Sopranen vorgetragene, weit ausgreifende „Salvator hodie“ erreicht eine geradezu hypnotische Wirkung. Im Unterschied zum Organum ist bei diesem als Conductus bezeichneten Stück auch die Fundamentalstimme neu erfunden und die Silben des Textes erklingen in allen Stimmen gleichzeitig, was den "mantra-artigen" Charakter der Musik noch verstärkt.
Dass diese frühe Mehrstimmigkeit von zeitloser Schönheit und Modernität ist, führt die Neuedeutung durch das Ensemble Gilles Binchois überzeugend vor unsere heutigen Ohren.
Georg Henkel
Trackliste
1 | Sederunt principes | 14:10 |
2 | O Maria, mater pia | 1:28 |
3 | Salvator hodie | 12:51 |
4 | Beata viscera | 7:15 |
5 | Deus pacis | 2:27 |
6 | Repons: Et valde | 7:39 |
7 | Luget Rachel | 3:00 |
8 | Benedicamus Domino | 5:20 |
Besetzung
Lena-Susanne Norin, Mezzosopran
Gerd Türk – Dominique Vellard - Hervé Lamy, Tenor
Joseph Cabré, Bariton
Ltg. Dominque Vellard
So bewerten wir:
00 bis 05 | Nicht empfehlenswert |
06 bis 10 | Mit (großen) Einschränkungen empfehlenswert |
11 bis 15 | (Hauptsächlich für Fans) empfehlenswert |
16 bis 18 | Sehr empfehlenswert |
19 bis 20 | Überflieger |